Es ist schon eine Weile her, Spätherbst war’s, grau und trüb. Ich steige in Chur in den ICE  70 nach Hamburg-Altona. Die Anzeige am Zug verspricht knappe elf Stunden Zugreise mit Zwischenhalt in Göttingen und Hannover. Es ist Mittag, halb eins, ich setz‘ mich in ein leeres Abteil und frag mich, ob ich am Abend in Hamburg wohl noch etwas in den Magen bekommen würde. Pünktlich fährt der ICE los, lässt die Churer Bahnhofshalle hinter sich, nimmt Tempo auf und bald verschwinden auch die Churer Aussenquartiere aus meinem Blickfeld. Schon kurz nach Haldenstein fühle ich mich richtig entspannt, streck‘ die Beine und geniesse die melancholische Herbststimmung die wie ein Kaurismäki-Film an mir vorbeizieht. Eine Pipeline windet sich entlang der Strecke, längst abgeerntete, braune Felder, dahinter, ansatzweise, nebelverhangene Flanken des Calanda. Weit draussen, zwischen zwei solchen Feldern, fällt mir ein kleiner weisser Punkt auf, der sich langsam bewegt. Ich fixiere diesen, folge ihm und erkenne darin einen weissen, futuristisch anmutenden Fahrradhelm, einer, wie ihn üblicherweise Zeitfahrer auf ihrer Jagd nach der letzten Hundertstelsekunde tragen. Der Helm will so gar nicht in dieses ruhige, herbstliche Bild passen. Die Person, die den Helm trägt, ist ganz in Schwarz gekleidet, aus Distanz scheint mir, dass sogar das Fahrrad schwarz ist, alles, bis auf den weissen Helm, verschmilzt mit der Landschaft. Dieser bewegt sich wie ein kleines, tief fliegendes Flugobjekt durch die Gegend. Meine Gedanken kreisen rund um dieses Bild, ich beobachte, wie der weisse Punkt kleiner und kleiner wird, wie die Person langsam mit der Landschaft verschmilzt und schliesslich ganz aus meinem Blickwinkel verschwindet. 

«Nächster Halt, Landquart» tönt es laut aus den Lautsprechern. Die Ansage reisst mich abrupt aus meinem kleinen Tagtraum. Ich prüfe kurz, ob alle Taschen meines Reiserucksacks verschlossen sind und mache mich, sobald der ICE in Landquart zum Stehen kommt, vom Acker. 

Die Reise hat gut begonnen, schade, denn nach Hamburg hätte ich längst schon mal gewollt. Wehmütig schaue ich dem abfahrenden ICE nach, gehe in Richtung Unterführung, um auf Gleis 6 den Zug ins Engadin zu besteigen. Mein Ziel: Zernez. Eigentlich ja auch nicht die schlechteste Destination.

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Autor und Foto: Jon Duschletta