«Bäm bäm, bädä bäm bäm.» Bea Salzmann steht vor 15 Frauen und Männern des Oberengadiner Jodelchörlis. Sie instruiert. Sie korrigiert. Sie insistiert. Sie lobt. Sie kritisiert. Jetzt beispielsweise, wo das Jodelchörli den Einmarsch in den Vortragssaal übt. «Das geht gar nicht. Ihr könnt nicht einfach ‹reinschlarpen›. Das muss Zackzack gehen.» Rechtsumkehrt, und das Ganze noch einmal. «Viel besser, es geht doch», zeigt sich Bea Salzmann schon zufriedener.
An einem Samstagmorgen in der Aula der Academia Engiadina in Samedan. Noch geht es zwei Wochen bis zum Eidgenössischen Jodlerfest in Zug. 10 000 Aktive und gegen 150 000 Besucherinnen und Besucher werden vom 16. bis 18. Juni in der Innerschweiz erwartet. Jodlerinnen und Jodler, Alphornbläser und Fahnenschwinger wollen zeigen, dass Brauchtum nicht nur gepflegt, sondern auch gelebt wird.

«Das gibt Schub 
und motiviert uns»
Auch das 1988 gegründete Oberengadiner Jodelchörli wird dabei sein. Obwohl Graubünden und das Engadin alles andere als eine Jodlerhochburg sind und während Covid weder reguläre Proben noch Auftritte möglich waren, ist es gemäss Co-Präsidentin Lydia Mehli gelungen, die Vereins-Mannschaft mit ihren 25 Mitgliedern zusammenzuhalten. In letzter Zeit sind sogar sechs junge Frauen dazugekommen. «Das gibt Schub und motiviert uns», freut sich Mehli.
Eine dieser jungen Jodlerinnen ist Vanessa Arnold. Wie so viele im Verein ist sie nicht im Engadin aufgewachsen. Obwohl ihr die Musik immer gefallen hat; einen direkten Bezug zum Jodeln hatte Arnold nicht. Bis vor zwei Jahren. Die Studentin der Höheren Fachschule für Tourismus war auf dem Academia-Campus in Samedan, als das Oberengadiner Jodelchörli einen Auftritt hatte. Dirigent Edwin Federspiel hat sie angesprochen und gefragt, ob das nicht etwas für sie wäre. So hat das eine das andere ergeben und jetzt, nach knapp zwei Jahren, ist Vanessa Arnold bereits eine der Jodlerinnen im Verein. Weil eine Kollegin weggezogen ist, ist sie mehr oder weniger in diese Position reingerutscht. «Ja, es ist sehr schnell gegangen, das Ganze macht mir aber auch viel Spass», sagt Arnold.

«Jodlerinnen 
müssen stark in 
den Tönen sein»
Im Chor gibt es die Sängerinnen und Sänger, quasi das Fundament, und eben die Jodlerinnen. «Diese müssen absolut sauber und stark auf den Tönen sein», sagt Bea Salzmann. Die Dirigentin, Jodellehrerin und Kursleiterin hat unter anderem an der Musikhochschule in Zürich/Winterthur Chorleitung studiert und mit dem Chorleiterzertifikat abgeschlossen. Sie hat schon viele Jodelklubs geleitet und erteilt in der ganzen Schweiz Kurse. Das Oberengadiner Jodelchörli begleitet sie seit längerer Zeit, mit dem Engadin ist sie ferienhalber stark verbunden. «Mir liegt der Verein am Herzen, und es tut mir leid, dass er keinen spezifisch ausgebildeten Jodler-Dirigenten finden, denn damit steht und fällt ein Verein.» Mit diesem Problem steht das Oberengadiner Jodelchörli gemäss Salzmann nicht alleine da. «Es herrscht schweizweit ein enormer Dirigentenmangel.»
«Ihr Jodlerinnen müsst eine Einheit bilden. Keine soll lauter sein als die andere», sagt Salzmann. Beim Chor vermisst sie gerade etwas das Feuer. «Das Lied handelt von einer Bergwanderung. Das steht: ‹Laufisch übre Grat gäg d‘Flue. Stellt euch das bildlich vor, ich will das im Lied hören und die Freude in den Gesichtern sehen. Und haltet bitte beim Singen die Spannung, von Kopf bis Fuss. Wir üben das noch einmal.» Noch ist Bea Salzmann nicht zufrieden. «Ihr müsst davon wegkom­men, Ton um Ton zu singen. Ihr müsst das Lied erzählen, mit den Tönen spielen», erklärt sie.

«In diesen drei 
Minuten müssen 
wir abliefern»
Das Oberengadiner Jodelchörli wird in Zug mit dem Lied «Bärgwanderig» des Komponisten und Jodlers Ueli Moor auftreten. Die Liedauswahl kommt nicht von ungefähr. Zum einen ist das Jodelchörli in den (Engadiner) Bergen beheimatet. Zum anderen ist es ein Lied ohne Jodel-Solisten. «Solo-Auftritte müssen behutsam aufgebaut werden, dafür ist es noch zu früh», sagt Salzmann, die aus ihrer langjährigen Tätigkeit viel Erfahrung mitbringt. Trotzdem ist sie am Ende des zweitägigen «Trainingslagers» zufrieden. «Wir haben viel an der Aussprache und an der Dynamik gearbeitet. Der Chorklang ist schon sehr schön, jetzt werde ich noch mit den Jodlerinnen üben.»
Welche Ziele hat sich der Verein für den Aufritt auf der grossen Bühne in Zug gesetzt? «Schön singen», kommt die Antwort von Lydia Mehli sofort. «Die Zuhörer mit einem Lied erreichen, welches von Herzen kommt und sie berührt», fügt sie an. «In diesen drei Minuten müssen wir abliefern», ergänzt Vanessa Arnold. Sicher wird sie als Jung-Jodlerin einen gewissen Druck spüren, wenn sie vor einer Jury singt. «Doch das Ganze soll vor allem auch Spass machen», versucht sie diesem Druck nicht zu viel Platz zu geben.
Neben dem eigentlichen Auftritt vor der Jury, der am Freitagabend bereits vorbei ist, wollen die Jodlerinnen und Jodler aber auch in die einmalige Atmosphäre eine Eidgenössischen eintau­chen und zusammen ein schönes Fest geniessen. Auf eine Benotung des Vortrages verzichtet das Jodelchörli, dafür erhält es von der Jury einen detaillieren schriftlichen Bericht über den Auftritt.
Mit im Publikum wird am Freitagabend auch die Coachin Bea Salzmann sitzen. Sie wird mit kritischem Auge beobachten, wie die Sängerinnen und Sänger einmarschieren, wie das Anstimmen – damit wird der Auftaktton des Liedes an alle Singenden übergeben – funktioniert, ob die Aussprache deutlich und die Freude spürbar ist. «Das A und O ist die Interpretation», sagt Salzmann. «Es gibt schöne Stimmen, die kalt rüberkommen. Und es gibt Stimmen, die etwas weniger sauber tönen, aber die Leute berühren und mitten ins Herz treffen. Darauf kommt es an.»