Romana Ganzoni
Im Zürcher Literaturmuseum "Strauhof" läuft eine Ausstellung, die sich mit Gesicht und Gedicht befasst. Nora Gomringer tritt auf, Klaus Merz sagt: «Im Strom der Sprache baut das Gedicht eine Treppe dem Wort», Zsuzsanna Gahse erzählt, dass (geglückte) Gedichte als kleine Kapseln bersten, es springen Erzählungen und Theaterstücke heraus. Umgekehrt verschlucken wenige Zeilen ganze Romane. Es keimt und rumort. Lyrik hat unter den literarischen Genres das meiste Potenzial als Utopiegenerator, schreibt Anna Hetzer. Und Anja Utler weiss, ein Gedicht stösst uns zu.
Autorinnen und Autoren haben dem Strauhof Videos geschickt, die von der Faszination Lyrik handeln. Manche stellte das Literaturmuseum auf Instagram, und das tat ich - davon inspiriert - kürzlich auch, ich postete Gedicht und Gesicht, ich postete die Performance der Künstlerin und Autorin Flurina Badel, die anlässslich ihrer Buch-Vernissage am 1. September in der Kunsthalle Nairs ein Dutzend rätoromanischer Gedichte vortrug.
Die Zuhörerschaft folgte Wort und Vers, die sich im Raum verbreiteten, sie folgte ihrem Klang, ihrer Eigenart, dem Zusammenspiel. Das Wort auf dem Blatt und im Buch trat eine Reise an, mit der Autorin, die es gesetzt hatte und nun aussprach, sie schickte es in den Raum, in Augen und Ohren des Publikums, das es im frisch erworbenen Buch lesen und mit dem Erleben an diesem Sonntag verbinden würde.
Mir ist das letzte Gedicht der 49 im Buch versammelten Texte, die alle 2018 in Wien entstanden, nahe gekommen. Es lautet im romanischen Original:
alch sainza nom
cumainza
cumainza
ajer schloppa
i’l schampagn
cula sur cristal
sguotta tras lenguas
schmaglia ourdsuot ils riers
sposta noziuns
i’l schampagn
cula sur cristal
sguotta tras lenguas
schmaglia ourdsuot ils riers
sposta noziuns
not da glüna verdainta
puda
ningün nu bada
puda
ningün nu bada
in boccas avertas
aintra alch
aintra alch
Eine unheilvolle Prophezeiung vielleicht, sie trifft aktuelle Befindlichkeiten, die diffus bleiben, auch wenn wir sie befragen. Denn da ist «alch». Etwas. Irgendetwas. Sainza nom. Namenlos. Und geht nicht weg, nein, es dringt ein. Damit ist das Ende oder der Anfang einer Reise bezeichnet, die das erste Gedicht «plasticarias schmaridas», ausgebleichtes Plastikzeug, intoniert.
Ich höre und sehe ein Auto, das auf der Schnellstrasse fährt, beschädigte Menschen darin. Ein lyrisches Ich streckt die Hand aus dem Fenster und sieht das Meer. Schau, sagt es zum Du, «che vista infernala», wörtlich: Was für eine höllisch gute Sicht! Ich sehe das Meer jetzt auch, möchte aussteigen, das Auto aber hält nicht an.
Ich höre und sehe ein Auto, das auf der Schnellstrasse fährt, beschädigte Menschen darin. Ein lyrisches Ich streckt die Hand aus dem Fenster und sieht das Meer. Schau, sagt es zum Du, «che vista infernala», wörtlich: Was für eine höllisch gute Sicht! Ich sehe das Meer jetzt auch, möchte aussteigen, das Auto aber hält nicht an.
Ich sehe das Meer, und ich sehe das Gesicht der Autorin auf der Bühne. Das Ich, das zum Meer fährt (und weiter), hat kein Gesicht, nur Augen, die der Schnellstrasse, dem Mittelstreifen und den Kadavern auf der Strasse folgen. Die Augen sind nicht traurig oder überrascht, hier liegt immer Aas. Auch die «frenadas qua e là», Bremsmanöver hie und da, sind zur Gewohnheit geworden und gehören zum Rhythmus des Textes - und des Buchs.
Das titelgebende Gedicht im romanischen Original:
tinnitus tropic
dist
rarità l’utschè
chi güzza seis pical da metal
dist
rarità l’utschè
chi güzza seis pical da metal
luot lain passar
ma scuzza eu trabüch
ma scuzza eu trabüch
l’utschè our da la fruos-cha fa
üna schlantschada in ot
da casü giò
frizza sün meis peis
sfracha speravia
üna schlantschada in ot
da casü giò
frizza sün meis peis
sfracha speravia
alas battüdas sün catram
plajast in palperi da saida
e l’ajer tschüblaja
Der «tinnitus tropic», der tropische Tinnitus, weist auf eine (andere) Klimazone und auf die Wiederholung hin. Obwohl er in Gehör und Körper offensichtlich ansässig geworden ist, bleibt er das Fremde, das auch als eingefleischte Wahrheit stört, denn nicht alles, was da ist, kann integriert und als das Eigene anerkannt werden. Dem Tinnitus ist das egal, er ist Programm, und die irritierte Fahrt auf Schnell- und Nebenstrassen geht durch sieben, nach Temperatur geordneten Kapiteln weiter.
Was noch?
Lesen Sie selbst: Flurina Badel, tinnitus tropic, poesias, editionmevinapuorger, turich 2019, ISBN 978-3-9524584-7-1
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
Diskutieren Sie mit
Login, um Kommentar zu schreiben