Foto: Romana Ganzoni
Endlos, die Zugfahrt durch das schottische Hochland. Von Edinburgh nach Inverness. Dann dem Loch Ness entlang. Meine Verbindung zu dieser Landschaft: die Begeisterung unserer Freunde aus Samedan und der Film «Highlander». Connor MacLeod, verkörpert von Christopher Lambert, 1986. Ich war 19. Meinen knochigen Hintern von damals auf den harten Stühlen im Gemeinde- und Kinosaal Scuol spüre ich noch immer.
Die rote Brücke, die sich über den Firth of Forth spannt, liegt hinter uns, sie kommt mir vor wie ein Portal, dahinter liegt das Engadin, wir fahren durch den God da Staz, der sich hier über Stunden ausdehnt und andere Landschaften beherbergt, bald schaue ich an einen Hang beim Abstieg von Marguns ins Dorf, dann zieht die Val Roseg vorbei, wie ein romanischer Gruss, in gälischer Sprache erwidert, nicht nur mit Erika, Wachholder, Preiselbeerstauden, schmalblättrigen Weideröschen und Föhren bewachsen, auch mit vielen Laubbäumen, das Engadin hat sich hier zeitlich und räumlich ausgedehnt, in die Breite gehend und in die Länge, die Berge sind nun Hügelketten, trotzdem sehe ich die Pass-Landschaften des Albula und des Flüela, ein paar Lärchen stehen da, noch nicht gelb. Keine Arven.
Drehen wir uns im Kreis? Oder werden wir in einer Spirale nach oben gebracht, eingeschraubt in diese Weite, die so schön ist, dass es weh tut. Dieses Weh kenne ich, es verbindet sich mit Filmen, die ich gesehen habe, nicht nur im Jahre 1986, mit Büchern, die ich gelesen habe, und mit der Berglandschaft, die ich von klein auf kenne. Es verbindet sich mit all dem, das gelebt ist und nie wiederkommt. Und doch dauernd da ist, zusammen mit dem, was keine Wehmut auslöst, es verbindet sich mit meiner Biographie und meinen Erfahrungen, die Ausgang, Referenz und Abgleich sind für alles, das heute ist und geschieht.
Im Zug rieche ich die Schafe, die als weisse Knäuel vorbeiziehen. Sie weiden hier zu hunderten, ich hoffe, ihre Wolle werde nicht verbrannt. Ich rieche sie, weil ich bereits weiss, wie sie riechen. Ein paar prächtige Kühe stehen auf den Wiesen, ich sehe ihre ausdrucksvollen Augen, obwohl sie gerade fressen. Ich weiss, wie Kuhaugen aussehen, und ich weiss, wie es klingt, wenn Kühe Gras ausreissen, um es zu schlucken.
Keine Vorstellung habe ich davon, wie die 25-jährige Inbal Liebermann im Kibbuz Nir Am es geschafft hat, die Bewohnerinnen und Bewohner zu schützen, als die Hamas-Terroristen einbrachen, um alle zu massakrieren. Die Geschichte scheint auf dem Display meines Telefons auf. Ich falle aus der Spirale, halte die Tränen zurück, lese den Artikel meinem jüngsten Sohn vor, ordne die Situation mit meinem Wissen ein.
Das Paar, das vis-à-vis sitzt, schaut uns zu, dann sagt die Frau, we are from Israel.
Mein Blick verschwimmt. Die Frau bittet mich, nicht zu weinen, sonst müsse sie auch weinen, ihr älterer Sohn sei Soldat, er sei an der Front. Der jüngere besuche die Kunstakademie.
Lange Pause.
Die Frau heisst Dafna.
Ein schöner Name, sage ich, er erinnert mich an Daphne.
Aus der griechischen Mythologie.
Ja.
Ihr Mann nennt seinen Namen, wohlklingend und fremd, ich will ihn unbedingt behalten, ich spreche ihn innerlich nach und sage gleichzeitig, ich bin so traurig und hilflos, was können wir tun?
Nichts. Das Schöne aufnehmen, die Natur, Kunst, sagt Dafna. Sie fügt an: freundliche Menschen.
Ich weiss nichts vom Krieg.
Aber Sie sind auch eine Mutter, antwortet Dafna.
Das ist das Letzte, das Dafna sagt, bevor wir uns verabschieden und aus dem Zug steigen.
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
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