Foto: Shutterstock, siamionau pavel
Das Handy ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Sie werden mir zustimmen, liebe Leserinnen und Leser. Kaum etwas geht mehr ohne das NATEL, wie ein mobiles Telefon vor gut vierzig Jahren bei uns genannt wurde. NATEL: Nationales Autotelefon. Ein schwarzer Kasten, so schwer wie heute ein E-Bike-Akku, mit einer maximalen Gesprächsdauer von drei Minuten. Tempi passati. Telefonieren ist bei den heutigen Wunderdingern nur noch eine Nebensache, weshalb es fast schon eine Frechheit ist, von einem Telefon zu sprechen. Heute heissen unsere ständigen Begleiter Smartphones und sind so etwas wie das Schweizer Taschenmesser des digitalen Zeitalters. Und ja, es ist schon erstaunlich, was diese Mobiltelefone heute alles können und wie sie uns das Leben erleichtern oder uns stundenlang an sich fesseln. Ein Leben, ja sogar ein einziger Tag ohne Smartphone ist für viele ein Horrorszenario. Zugegeben, auch in unserer Familie gehört es zur Standardausrüstung. Schnell mal das Wetter checken, den Kontostand abfragen, ein Foto vom tropfenden Gelato in den Händen unseres Sohnes nach Hause schicken, kurz eine E-Mail beantworten oder auf Instagram posten, dass es uns im Urlaub gut geht. Aber dann - aus heiterem Himmel haben wir etwas gewagt: einen Ausflug ohne ständige Handy begleitung. Nach dem Einchecken auf dem Campingplatz haben wir unsere "Mobilausrüstung" im Wohnmobil gelassen und sind, wie von der netten Dame an der Rezeption empfohlen, Richtung Stadt spaziert. Immer am See entlang. In zehn Minuten wären wir im Zentrum, hatte sie gesagt, die nette Dame an der Rezeption. Wir liefen also am wunderschönen See entlang, als die obligate Frage kam, wie lange wir denn schon unterwegs seien? Meine Sportuhr zeigte, fünfzehn Minuten. "Die Frau sagte zehn Minuten." «Nein, ungefähr zehn Minuten, sagte sie.» Die zweite – auch obligate Frage - war, ob das wohl der richtige Weg ins Zentrum sei. Goggle Maps konnte aus bekannten Gründen nicht helfen. Ein Rentner mit seinem Hund gab Entwarnung. Wir waren auf dem richtigen Weg und nur etwa zweihundert Meter vom Zentrum entfernt. Die Laune stieg schlagartig. Im Zentrum angekommen, zeigte uns ein Blick auf die Kirchturmuhr, dass wir noch über eine Stunde Zeit hatten, bis die Pizzeria öffnen würde. Eine Stunde, was äusserst knapp war, um die historische Stadt zu besichtigen. Zwei Drittel der Familie freuten sich auf die Geschichte der Stadt, ein Drittel machte mit der Aussicht auf eine feine Pizza wenig motiviert mit. Ein grosses Schild vor dem Tourismusbüro wies auf eine "wegweisende" Neuerung der Stadt für ihre Besucher hin. "Entdecken Sie die Stadt mit Ihrem Smartphone. QR-Codes, die mit dem Handy gescannt werden können, erzählen die spannende Geschichte der ehemaligen Römersiedlung. Für Kinder gibt es einen interessanten Gladiatorenpfad mit Gutschein für ein personalisiertes Lederarmband. Melden Sie sich online an und es kann losgehen." Wir gingen zur Pizzeria. Mal sehen, ob sie nicht vielleicht doch schon geöffnet hatte. Sie hatte. Zum Glück. Mit vollem Magen ist die Laune bekanntlich besser. Wir bestellten die Getränke und fragten nach der Speisekarte. "Fotografieren Sie den QR - Code auf dem Tisch. Sie können die Karte dann auf Ihrem Handy ansehen." Nein. Nein konnten wir nicht. Eine Speisekarte aus Papier gäbe es seit Corona nicht mehr, informierte uns die Kellnerin. In einer Pizzeria ist das zum Glück nicht so schlimm. Eine Pizza Margherita, eine Quattro stagioni und eine mit salame piccante konnten wir auch ohne digitale Speisekarte bestellen. Die Pizzen waren ein Genuss und das anschliessende Dessert mit Espresso und Grappa aus dem Barrique-Fass auch. Und doch hatte ich ein mulmiges Gefühl. Wir mussten, wie in einem Restaurant ja üblich, unser Abendessen auch noch bezahlen. Nicht, dass unser Konto leer gewesen wäre, nein, aber wahrscheinlich würde nur Karte oder Twint zur Begleichung der Schuld akzeptiert. Und ja, das Handy, Sie erinnern sich , liebe Leserinnen und Leser, lag im Camper und meine EC-Karte im Innenfach der Handyhülle. Ich sah mich schon auf dem halbstündigen Eilmarsch zurück zum Campingplatz und wieder retour zur Pizzeria. Zögerlich fragte ich nach der Rechnung. Die erste Erleichterung kam, dass ich genug Bargeld dabei hatte, um cash bezahlen zu können. Die zweite Überraschung war, dass man dieses sogar akzeptierte. "Nur Bares ist Wahres", lachte der Capo der Pizzeria, der das Kassieren zur Chefsache erklärt hatte. Mit leichtem Herzen und vollem Magen ging es zurück zum Wohnmobil. Diesmal entlang der Bahngleise. Nach acht Minuten waren wir in unserer Ferienwohnung auf Rädern. Der erste Griff galt dem Smartphone. Meine Frau öffnete den digitalen Stadtrundgang, unser Sohn schaute sich den Gladiatorenpfad an und ich las die Speisekarte der Pizzeria. Plötzlich fiel mir ein Zitat ein: "Dinge müssen nicht die Welt verändern, um wichtig zu sein" Ich googelte auf meinem iPhone nach dem Autor dieses Zitats: ausgerechnet Steve Jobs.
Andrea Gutgsell
Andrea Gutgsell ist 1965 in Samedan geboren und aufgewachsen. Heute lebt er mit seiner Familie in Sils Maria. Als leidenschaftlicher Laienschauspieler und Moderator ist er immer wieder auf Engadiner Bühnen zu sehen. Heute arbeitet er als Pfändungsbeamter. Zum Schreiben ist er eher durch einen glücklichen Zufall gekommen. «Tod im Val Fex», erschienen im Zytglogge Verlag, ist sein erster Roman.
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