Foto: Romana Ganzoni
Die Identitäts-Karte meiner 85jährigen Mutter ist abgelaufen, jetzt will sie eine neue. Sie ist nicht der Typ, der in der Vergangenheit klebt. Obwohl fast erblindet, wohnt sie selbständig und traut sich vieles zu, zum Beispiel eine Reise, die über die Grenze führt. Einen feschen Gefährten dazu gibt es auch. Mir fordert ihre Haltung, und dass sie sich als handlungsfähig erlebt, Respekt ab. Denn ich weiss, es ist nicht selbstverständlich, in diesem Alter und erst noch mit Einschränkung eine neue Identitätskarte zu bestellen. Das bedeutet Aufwand. Es kostet, und nicht alle haben genug Energie – oder Zuversicht. Schade.
Brauchen wir nicht immer die Aussicht, mit einem Gschpöhnli bei Nacht und Nebel abzuhauen und uns in einem billigen Hotel am Meer einzunisten? Oder im Bergell. Auch dazu brauchen wir in jedem Alter eine ID oder einen Pass. Damit die anderen meinen, wir seien am Meer, im billigen Hotel, und spucken Weisswein aus dem Fenster.
Brauchen wir nicht immer die Aussicht, mit einem Gschpöhnli bei Nacht und Nebel abzuhauen und uns in einem billigen Hotel am Meer einzunisten? Oder im Bergell. Auch dazu brauchen wir in jedem Alter eine ID oder einen Pass. Damit die anderen meinen, wir seien am Meer, im billigen Hotel, und spucken Weisswein aus dem Fenster.
Einen Pass will meine Mutter nicht. Ich werde versuchen, sie im Passbüro zu überreden, einen Pass zu bestellen. Sie wird fragen: Wozu? Ich werde antworten: Aus Prinzip tenk. Und dann werde ich das tun, was sie hasst: Geld über den Tresen schieben. Riesenkrach. Sie will «ihr Zeug» selbst bezahlen. Tu nicht so blöd!, werde ich sagen. Und du, tu nicht saublöd!, wird sie antworten. Und dann geht es etwa so weiter: Von wem habe ich das geerbt, dieses Blöd-Tun? Von mir nicht. Doch, doch, von dir. Und den Granit-Grind dazu. Ach, hör doch auf! Immer dieses Theater. Leg sofort das Portemonnaie weg! Nein. Doch. Nein. Doch. Und so weiter.
Zum Schluss setzt sich meine Mutter durch. Aber ich werde niemals freiwillig auf diesen Streit verzichten. Wenn sich meine Mutter wehrt, ist sie ohne Alter, vital, tonisiert. Ah, du hast aber eine kräftige Stimme, Mama, kannst gerne ein bisschen runterschrauben, sage ich jeweils. Nichts gegen Deine Röhre, sagt sie. Du bist viel lauter. Und dann geht es wieder los. Nein. Doch. Nein. Doch. Ich sagte ja, es gefällt mir. Ihr auch. Dir gefällt das Streiten, oder, Mama? Geht so. Du willst immer streiten. Das sagt die Richtige. Gib auf! Nein. Dann mach halt weiter! Und dann bezahlt sie ihre ID.
Als Kind sagte ich «Indentitätskarte», statt Identitätskarte, was mir auch heute noch gefällt, «indent» heisst auf englisch «Kerbe». Meine Identität auf dem Kerbholz, das ich mir als Lochkarte vorstelle. Bei jeder lässlichen Sünde und jedem zwielichtigen Spass schwebt eine Lochzange herbei und knipst hübsche Musterungen auf meine Eintrittskarte ins Altersheim, wo ich ein Zimmer mit Aussicht bekomme, weil die Lochkarte mich als gute Unterhaltung ausweist. Mit 85. Meine Mutter wäre dann 113 und erst seit zwei Jahren dort.
Sie würde bei meinem Eintritt die Braue heben und sagen: Aha, du brauchst also bereits Room-Service und Suppenküche. Ich würde versuchen, ihr zum Zvieri ein Erdbeertörtchen aus der Bäckerei unterzujubeln, und sie würde ein Geschrei machen und darauf bestehen, es zu bezahlen. Tu nicht so blöd!, sagte ich. Und du, tu nicht saublöd!, würde meine Mutter antworten. Und dann ginge es etwa so weiter: Von wem habe ich das geerbt, dieses Blöd-Tun? Von mir nicht. Leg sofort das Portemonnaie weg! Nein. Doch. Nein. Doch. Und dann würde meine Mutter einen Fünffränkler für das Erdbeertörtchen auf den Tisch knallen. Und so weiter.
Sie würde bei meinem Eintritt die Braue heben und sagen: Aha, du brauchst also bereits Room-Service und Suppenküche. Ich würde versuchen, ihr zum Zvieri ein Erdbeertörtchen aus der Bäckerei unterzujubeln, und sie würde ein Geschrei machen und darauf bestehen, es zu bezahlen. Tu nicht so blöd!, sagte ich. Und du, tu nicht saublöd!, würde meine Mutter antworten. Und dann ginge es etwa so weiter: Von wem habe ich das geerbt, dieses Blöd-Tun? Von mir nicht. Leg sofort das Portemonnaie weg! Nein. Doch. Nein. Doch. Und dann würde meine Mutter einen Fünffränkler für das Erdbeertörtchen auf den Tisch knallen. Und so weiter.
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
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