Foto: Romana Ganzoni
Ich bin in Paris, und der Juni ist kühl. Das Quartier, das ich kenne, hat nach Covid gelitten, viele Geschäfte sind zu, es ist schmutziger geworden, eine Schule in der Nähe macht ihre Probleme öffentlich, mit riesigen Plakaten, die Anforderungen seien gestiegen, die Mittel gekürzt, die Kassiererinnen in meinem Lieblings-Carrefour sind zugänglich und freundlich wie immer, die Macarons aus der Konditorei um die Ecke schmecken, meine Spaziergänge sind die gleichen, der Strasse entlang oder zu Sacré-Coeur hoch, ein umstrittener Bau mit unbestritten schöner Aussicht.
Auf dem Weg dahin komme ich an zwei privaten Pétanque-Plätzen und einer öffentlichen Bahn vorbei, sie ist umzäunt, am Tor hängt die oben abgebildete Tafel, ich bleibe stehen und betrachte sie, als fehle mir jede weitere Information dazu. Ich treibe dieses Spiel gerne in einer Zeit, die viele und wohl auch mich verführt, Vorgänge oder Dinge ohne eingehende Beobachtung einzuordnen. Würdige ich sie, bleibt nämlich so einiges unklar. Worum geht es hier? Ich habe 60 Vermutungen.
1. Der Mensch hat nicht fröhlich zu sein.
2. Der Mann soll nicht so lustig tun.
3. Lebensfreude verboten.
4. Spazieren kann weg.
5. Menschen, die sich einen Hund leisten, müssen über die Bücher.
6. Menschen, die gehen, haben keinen Zutritt.
7. Anhalten, bitte.
8. Nur Menschen ohne Hände sind hier gern gesehen.
9. Glatzen gehen gar nicht.
10. Hundeverbot für Mann ohne Haar.
11. Hunde mit Pfoten waren gestern.
12. Das Malen von Mensch und Hund ist untersagt.
13. Sei nicht die Silhouette deiner selbst.
14. Keine solchen Tafeln anbringen.
15. Sag deinem Hund, er soll sitzen oder liegen.
16. Geknickte Frau ohne Haustier willkommen.
17. Depressives Kind ohne Haustier willkommen.
18. Hunde ohne Mensch und ohne Leine dürfen rein.
19. Ein Mensch ohne Hund ist kein Problem.
20. Hier darf kein Hund und kein Mann rein.
21. Bitte keine Säugetiere auf diesem Areal.
22. Frauen ohne Hunde sind willkommen.
23. Kinder ohne Hunde sind willkommen.
24. Frauen mit Hunden sind willkommen.
25. Kinder mit Hunden sind willkommen.
26. Mann mit Katze: Bitte eintreten.
27. Trabende Hunde nicht genehm.
28. Die Gangart des Hundes soll natürlich wirken.
29. Menschliche Arme müssen am Körper bleiben.
30. Bitte kleine Schritte machen.
31. Zwei Arme und zwei Beine sind Vorschrift beim Menschen.
32. Vier Beine sind Vorschrift beim Hund.
33. Rollstuhl verboten.
34. Krücken verboten.
35. Nur blaue Männer erlaubt.
36. Schnauzer bleiben draussen.
37. Schnauzer und Menschen bleiben draussen.
38. Flachgesichtige Hunde sind erlaubt.
39. Grosse Hunde sind erlaubt.
40. Gefährliche Hunde sind Pflicht.
41. Bitte Maulkorb tragen.
42. Hunde mit kupierter Rute dürfen nicht eintreten.
43. Wölfe erlaubt.
44. Hamster erbeten
45. Boa Constrictor beliebt.
46. Fledermäuse haben Vortritt.
47. Männer mit freischwebenden Köpfen bleiben draussen.
48. Bitte nur frontal eintreten.
49. Keine seitlichen Manöver.
50. Leute und Hunde, die in die Laufrichtung gehen, sind inakzeptabel.
51. Bitte rückwärts laufen.
52. Flache Schuhe sind verpönt.
53. Schlanke Männer haben keinen Zutritt.
54. Leute ab 120 Kilogramm ohne Hund, bitte.
55. Übergewichtige Hunde werden hier gehätschelt.
56. Hunde müssen ein Halsband tragen.
57. Hunde sollen vorangehen.
58. Eintritt bei Hagel, Schnee und Regen.
59. Die Farbe grün ist für Mensch und Hund unangemessen.
60. Eintritt, wenn du nicht die Person auf dem Bild bist.
Leute, Leute, die Welt ist kompliziert, deshalb trinke ich jetzt ein Glas Chardonnay. Viva!
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
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