Cover-Ausschnitt "Fest" (Cover: Fabian Frey)
Es ist März, und wir begleiten die Schriftstellerin Noëlle Salomon, eine Mittvierzigerin aus Zürich, in das grosse Haus ihrer bigotten Schwiegermutter im Jura. Bertram, ihr scheidungswilliger Ehemann, der eine über viertausend Franken teure Lederjacke aus der «Portokasse» bezahlt, aber sonst sterbenslangweilig ist, fährt Noëlle hin. Nun hat sie das ganze gut gesicherte Haus für sich allein. Noëlle nennt es «Mohn» und bezieht ein Zimmer.
Die Leserin wundert sich und starrt, zusammen mit Noëlle, auf die Flecken an der Wand – Mayonnaise? Oder etwa eine Art leitmotivischer Rorschachtest? Ein neues ABC? Die Flecken - Fett, Urin, Curry, Milch - werden sich, wie Noëlles Obsession, in verschiedenen Anläufen, Variationen und Facetten durch den Roman ziehen. Dies in einer verführerischen Sprache, die ehrlich tut und schön beschreibt, vor allem die Natur, und so einiges in Klammern erklärt und übersetzt, aber dann doch mehr verbirgt als enthüllt. Kein Wunder bei einer Erzählstimme, die unzuverlässig ist, aber auch präzise beobachtend, was uns (und sie) auf ganz besonders schlüpfriges Terrain führt. Aus dem herausfordernden Vexier-Spiel wird bitterer Ernst: Noëlle läuft einmal vor den Zug, wie sie uns wissen lässt, und stopft sich ein zweites Mal mit Tabletten voll. Ohne finalen Erfolg.
Zum Glück, möchte die Leserin sagen, aber die Erleichterung will sich nicht einstellen.
Bevor die Ambivalenz noch mehr Nahrung erhält, kommen wir erstmal mit Noëlle an. Wir sehen sie schlafend, träumend, beobachten Mond, Morgenlicht, Tiere, Bäume, viele Bäume, einen Kürbis, Flieder. Wir sind beim Kochen dabei, unternehmen Spaziergänge, gehen zu Harry, einem pensionierten Astrophysiker, oder ins Geschäft zu Hexe Muira, die hinter der Theke steht und Kundin Noëlle zum Hoffen anhält, ihr Kerze um Kerze verkaufend, Buch um Buch, Ohrringe, mit Fledermausblut betriebene Füller.
Wir beobachten, wie Noëlle mit «David» beschriftete Zettel unter einer Fichte begräbt, Zettel in den Fluss wirft oder die Toilette runterspült, Kerzen anzündet, mehrmals in eine Höhle tritt, in die Dorfbeiz geht, einen totgefahrenen Wolf begräbt, mit ihrem Psychiater Sacha spricht und mit ihrer - imaginierten - Freundin Penelope, deren Name auf konstitutive Roman-Elemente verweist: Irrfahrt und Warteschlaufe. Wir sehen Lover - beziehungsweise Pfleger - Tichon sowie Kommissarin Claire, die sich als Noëlles Mutter entpuppt.
Die Leserin gerät in eine Welt, die dem Wahn Sinn zuführt und Deutungs-Gewohnheiten aushebelt. Wer die Adaptation schafft - gleich einem Auge, das sich dem Licht anpasst -, wird vom Sog erfasst. Nach und nach verziehen sich ein paar Nebelschwaden, auch weil die Protagonistin eigenmächtig die Medikamente absetzt: Noëlle - femme fragile, fatale, folle et de lettres - ist nicht in «Mohn», sie ist in einer Nervenheilanstalt, die als poetischer Brutkasten funktioniert. Nur hier, so schwant der Leserin, kann Noëlle den Roman zu Ende bringen, an dem sie bereits sechs Jahre arbeitet. Sie belügt den Verlag über den Fortgang – und wohl auch sich selbst. Bis sie den Roman über den Roman schreibt. Er liegt uns vor.
Ist die als "Liebeswahn" betitelte Obsession, als deren «Zeugin» Noëlle fungiert und derentwegen sie eingeliefert wird, nur ein Vorwand, um das Werk endlich zu vollenden? Vielleicht. Es wäre eine so katastrophale wie kluge Massnahme der Künstlerinnen-Seele. «Eine Schriftstellerin muss alles aushalten», sagt Noëlle. «Schriftsteller liefern dich ans Messer, das musst du einfach wissen.» Denn: «Der Weg zur Erkenntnis führt über das Monströse.»
Also auch über Psychose oder Intensiv-Beziehung mit dem sprachaffinen Lehrer und Rektor David. Beziehungsstatus: verheiratet. Er bricht die Affaire zu Noëlle ab und ghostet sie - mit Ausnahmen - bereits fünf Jahre lang. Sie nimmt es nicht hin, öffnet und schliesst süchtig Whatsapp, Signal, Facebook, Instagram sowie Google und leitet aus Davids Social-Media-Verhalten geheime Nachrichten an sie ab, die sie quittiert, auch mit Fotos oder einem Film in Unterwäsche und lasziver Pose. Dazu kommen Mord-Fantasien. Diese Vielstimmigkeit liefert einer Schriftstellerin Stoff. Für guten Stoff muss sie, wie die Leserin jetzt weiss, alles aushalten.
Dass David nicht oder sehr spärlich antwortet, gehört zum Ritual. Noëlle kann sich alles erklären, dann hadert und trauert sie, um kurz darauf die Sache wieder zu ihren Gunsten zu wenden, zu loben, zu verstehen, zu verzweifeln. In Davids chinesischer Frau, Fen, die sie ebenfalls stalkt, sieht Noëlle die ganz Andere, obwohl Fen sie spiegelt, beide Frauen sind finanziell abhängig vom Ehemann und verharren in einer dienend-passiven, vielleicht masochistischen Haltung. Die eine kocht, die andere schreibt sich zu David hin.
Bertram überweist der Klinik 20'000 Franken pro Monat, bis es ihm – nach einem Jahr – zuviel wird. Noëlle lernt für das viele Geld andere «Irre» kennen, eine ganze Batterie, zum Teil lebensmüde, anorektisch, unter Zwang lebend, interessant oder sympathisch allemal: Elisabeth, Camille, Lätitia, Eveline, Capucine, Pretty Liza, Belle, Wendelin, Vivienne, die Alte im Kostüm, der Adidas-Typ, Tim, Etel, Julie, Ludovic. Plus Esel, Hund und Katze. Therapie-Tiere.
Das alles ist sorgfältig und raffiniert komponiert, sprachlich subtil. Zauberspruchartige Haikus, die sich streckenweise zu einem längeren Gedicht fügen, wechseln sich mit erzählerischen Prosapassagen ab, Assoziiertes folgt auf eine Impression, einen Rückblick, eine Vision, der Text überlappt, blendet aus, gibt sich hin, zappt weg, taucht ins Virtuelle, reflektiert, wiederholt, kreist um sich selbst, um die Figuren, schrumpft und dehnt sich aus, bis die Leserin vermeintliche Klarheit hat, was bedeutet: die präsentierte Realität versteht - als Fest der Sinne.
«Man ist schneller verrückt, als man ein Spiegelei gebraten hat», sagt Noëlle zum Schluss. Und die Leserin hat nach diesem Ritt keinerlei Zweifel daran.
Mireille Zindel wird am Donnerstag, 29. August, 20.30h, im Hotel Reine Victoria aus «Fest» lesen, Moderation: Romana Ganzoni, Eintritt: CHF 10
Mireille Zindel: Fest. Roman. lectorbooks, Zürich 2024, 410 Seiten, ISBN 978-3-906913-43-8
Romana Ganzoni
Romana Ganzoni (*1967, Scuol) ist Autorin und wohnt in Celerina/Schlarigna. Nach 20 Jahren als Gymnasiallehrerin schreibt sie seit 2013 Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays, Kolumnen sowie für Radio und Bühne. Sie wurde für den Bachmannpreis nominiert, erhielt den 1. Preis beim Essay-Wettbewerb des Berner Bunds und ist Trägerin des Bündner Literaturpreises.
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