Gemeinsam mit dem älteren Herrn auf den letzten Kilometern, ich sichtlich angeschlagen. Foto: Fabiana Wieser
Nach dem Rücktritt vom Profisport hat es nicht sehr lange gedauert, bis ich mir neue Ziele gesteckt habe. Mit meinem zeitintensiven, anspruchsvollen Job bietet sich das effiziente, zeitsparende Laufen doch gerade richtig an.
Und warum nicht einmal etwas Neues ausprobieren, einen Halbmarathon zum Beispiel. Der Klassiker, nicht gerade sehr einfallsreich.
Kaum hatte ich den Button «Anmeldung abschliessen» gedrückt, so stand ich keine zwei Wochen später an der Startlinie des Achenseelaufs. Eine neue Erfahrung mit ganz vielen, neuen Eindrücken.
Bereits vor dem Rennen macht man sich sein eigenes Bild von der Konkurrenz: Lange Hosen, der hat bestimmt viel zu heiss! Grauenvoller Laufstil, der kann nicht schnell sein. Eine Stunde vor dem Start bereits am Aufwärmen, der mag später bestimmt nicht mehr! Mein Learning Nummer eins von einer Laufveranstaltung: Lasst euch von den äusseren Umständen nicht täuschen, denn das heisst noch gar nichts! So wurde ich schon kurz nach Rennbeginn von Läuferinnen und Läufern überholt, die ich bestimmt nicht zuoberst auf meine Liste gesetzt hätte. Ich liess mich davon aber nicht beirren und tröstete mich mit der null-acht-fünfzehn Aussage: Das Rennen dauert ja noch lange!
Lange ist auch ein gutes Stichwort, wenn es um die Verpflegung geht. Bereits nach der Rennhälfte habe ich das eingepackte Gel hochgeschätzt, als mir beim Verpflegungsposten Wasser und Holunderblütensirup angeboten wurde. Absolut nichts gegen Sirup, aber über eine Halbmarathondistanz war ich dann doch happy über ein paar Kohlenhydrate mehr.
Das Rennen lief soweit nach Plan und ich fühlte mich immer noch gut.
Es schien, als habe ich einen passenden Laufkollegen gefunden, an dessen Fersen ich mich heften konnte. In seiner Hosentasche ertönte nach jedem Kilometer über seinen Handylautsprecher eine weibliche Stimme, die ihn über sein Lauftempo informierte. Wie praktisch! Doch aus praktisch wurde schnell nervig und so rannte ich zuversichtlich weiter, mit der Hoffnung, unter den 1500 Teilnehmenden noch einen anderen, passenden Laufkollegen zu finden. Zum Glück wurde ich wenig später fündig.
In einer Fünfergruppe ging’s auf den zweiten Streckenabschnitt über Single Trails, Stock und Stein. Aufgrund eines Bänderrisses vor einigen Jahren und instabiler Fussgelenke entsprach dieses Gelände nicht gerade meinen Vorlieben. Zum Glück wurde in unserer Gruppe ein angenehmes Tempo gelaufen, sodass ich bei den technischen Passagen meinen Fokus bewahren konnte. Obwohl angenehm war es von der körperlichen Empfindung zu jenem Zeitpunkt schon lange nicht mehr. Der Puls stieg immer höher, die Säure in den Beinen machte sich breit und die Sonne wurde immer stärker. Noch sieben Kilometer bis ins Ziel klingt eigentlich machbar. «Einmal von Sent nach Scuol und zurück. Und noch ein bisschen mehr», versuchte ich mich mit Selbstgesprächen zu beruhigen. Doch das Streckenprofil sprach nicht gerade dafür, dass sich die verbleibenden Kilometer schnell absolvieren lassen. Es wurde hart. Mit Blick auf den Boden und voller Fokus auf meine Atmung nahm ich einen Schritt nach dem anderen, bis ich vor mir einen Läufer fluchen hörte: «So ein Mist!» Ich musste nicht gross überlegen, was es sein konnte. Ich hob meinen Blick und sah nach oben in eine steile Felswand. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde klar, dass das Brennen in den Beinen auch nicht mehr weniger werden wird. Der Läufer hinter mir, das war der Motivator unserer Gruppe. «Das ist das steilste Stück der ganzen Strecke», sagte er mit sympathischem Österreicher-Dialekt. «Das will ich hoffen», antwortete der Fluchende. Etwas beruhigt war ich über die Tatsache, dass ich offensichtlich nicht die Einzige war, die litt.
Rechts und links an den Seilen haltend und gefühlt auf allen vieren kämpften wir uns zum höchsten Punkt. Von dort aus konnten wir uns zu zweit leicht absetzen und ich versuchte das Tempo etwas anzuziehen. Da ich gut im Rennen lag, wollte ich verhindern, dass die weiteren Frauen den Anschluss an die Gruppe wieder schafften. Auf Mithilfe für die leichte Tempoverschärfung rund drei Kilometer vor dem Ziel wartete ich vergebens. Also entschied ich mich, den Blick nach vorne zu richten und sah einen älteren Herrn, der ein gutes Tempo zu laufen schien. Als er mich sah, sagte er zu mir: «Wir laufen ein gutes Tempo, es ist nicht mehr weit bis ins Ziel!» Moment mal, er kann noch sprechen? Mehr als ein Nicken und einen Daumen hoch lag bei mir nicht mehr drin, zu sehr war ich ausser Atem und komplett am Limit. Während ich mich mit letzter Kraft Richtung Ziel kämpfte, lief der ältere Herr locker leicht neben mir her und machte einen relativ entspannten Eindruck. «Das kann doch nicht sein», dachte ich mir. «Ich bin in meinen besten Jahren und habe Mühe, einem Pensionierten nachzulaufen.» Auch die genaue Überprüfung seiner Startnummer änderte nichts an diesem Fakt. Dieser Mann ist die genau gleiche Strecke wie ich gelaufen und zur selben Zeit gestartet. Wir liefen zusammen ins Ziel, ich gratulierte ihm und sprach meinen tiefsten Respekt aus. Und auch meine Wortwahl zum Pensionierten war nicht übertrieben, denn dieser Herr ist 65 Jahre alt. Ein weiterer Beweis dafür, dass man sich von den äusseren Umständen nicht täuschen lassen sollte, denn Läuferinnen und Läufer werden oft masslos unterschätzt.
Nach dem Zieleinlauf legte ich mich hin und blickte auf meine Uhr: Enttäuschung. Das Rennen hatte sich doch so gut angefühlt und ich hatte mir grob ausgerechnet, was im Bereich des Möglichen lag. Ich hatte keine hohen Erwartungen, aber dass ich angeblich so stark abgegeben hatte, traf mich doch hart.
«Wow, super», hörte ich meine Eltern im Zielraum rufen. Als ich auf die Anzeigetafel blickte, so wusste ich, dass irgendwo ein Fehler passiert sein musste. Die Zeiten stimmten nicht überein. Doch bereits wenig später: Erleichterung!
Das Ganze sah dann ganz anders aus, als ich die 30 Minuten Einlaufen von meiner Uhr subtrahieren konnte und so die richtige Wettkampfzeit sah. Anfängerfehler!
Ich beendete das Rennen auf dem 12. Gesamtrang sowie dem 3. Kategorienrang und überraschte mich damit selbst. Das sind die unbezahlbaren Momente, an denen man seine eigenen Erwartungen übertrifft.
Fabiana Wieser
Fabiana Wieser ist 26 Jahre alt und gebürtige Unterengadinerin. Sport war schon immer ihre grosse Leidenschaft. Zu Beginn war sie oft auf den Skipisten unterwegs, bis sie schliesslich ihre Passion zum Ausdauersport, aber insbesondere zum Langlaufsport, entdeckte. Sie absolvierte das Gymnasium am Hochalpinen Institut in Ftan und hat in dieser Zeit unter anderem die Spitzensport RS in Magglingen absolviert.
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