Badende am Wassertank in Mumbai. Filmstill aus «The Sense of Tuning». Foto: Bêka & Lemoine
Auch wenn der Mensch aufrecht geht und steht, liebt er das Sitzen. Das Sitzen geht meist mit dem Beobachten einher, was für das Funktionieren einer Gruppe entscheidend ist. Denn nur wer die anderen wahrnimmt, ist fähig, sich in der Gemeinschaft einzubringen und von ihrem Schutz zu profitieren. Auch für Tiere ist es wichtig, die Gruppe im Auge zu halten und zu wissen, wer der Boss ist. Mit dem Beobachten der anderen setzt die Lernfähigkeit ein, was uns mit vielen Tieren verbindet, auch wenn wir meinen, ihnen darin überlegen zu sein. Ich wage aber zu behaupten, dass der Mensch das einzige Lebewesen im Tierreich ist, das aus diesem Beobachten und Herumsitzen heraus Kunst erzeugt, Gegenstände, die keinen direkten Nutzen haben. Auch Rituale gehen aus diesem Sehen und Gesehenwerden hervor. Archäologische Sammlungen aus der Steinzeit verweisen weltweit auf das frühe Verständnis von Ästhetik und Imagination. Und wo Rituale praktiziert wurden, spielten die Menschen auch Theater.
Mit den Jahrtausenden wurden die Sitzbänke immer weicher und analoge Inszenierungen wichen der digitalen, womit ich mich endlich in den Kinosaal vorgeschrieben habe; denn die letzte Woche verbrachte ich in einem Plüschsessel im Cinema Scala am St. Moritz Art Film Festival, das unter dem Motto «Meanwhile Histories» stand. Das Festival thematisierte die Art und Weise des Geschichtenerzählens im Bewusstsein, dass Milliarden von Dingen gleichzeitig passieren, dass unser Verständnis einer Chronologie bloss ein Konstrukt ist, um der Komplexität der Welt Herr zu werden, und wir nicht nur unsere Zukunft schreiben, sondern auch die Vergangenheit, denn Erinnerungen verändern sich genauso wie unsere Gegenwart: Wir verändern die Vergangenheit durch unser Erinnern.
Am Eindrücklichsten fing dieses Aufsplitten von Zeit in unendlich viele Zeitstränge «The Sense of Tuning» von Ila Bêka und Louise Lemoine ein. Das Duo begleitet den Architekten Bijoy Jain zwölf Stunden durch Mumbai. Der Zuschauer taucht mit ihm ein in das pulsierende Leben in der 20-Millionen-Metropole an der indischen Westküste. Bijoy führt die Filmer in Stahlfabriken und Schreinereien, wo die Menschen tagsüber arbeiten, und nachts schlafen, wo immer jemand Kaffee kocht, sich wäscht, wo der Strom des Lebens nur nachts für ein paar Stunden pausiert. Für Bijoy besteht der Sinn des Lebens in den sechs Sinnen an sich. Hören, Riechen, Sehen, Schmecken, Tasten und die Intuition führen ihn in eine Gegenwart, die sich eben erst durch diese Achtsamkeit offenbart. Diese Präsenz zelebrieren die Bewohnerinnen und Bewohner Mumbais etwa bei einem Bad im Wassertank, der traditionellen «Badeastalt», wo man sich trifft, zusammen etwas isst und Rituale vollzieht.
Von einer solchen Intensität zeugt auch das Porträt «From Guelmim to Biasca» über den Künstler Flavio Paolucci von Villi Hermann, der während der Corona-Zeit den Arbeitsprozess des fast 90-jährigen Künstler einfing.
Eine andere Realität teilen die Bewohnerinnen und Bewohner von L’ Unité d’Habitation von Le Corbusier in Marseille. Der Film von Ingel Vaikla thematisiert den Blick der weiblichen Mieter auf ihren Wohnkomplex und die Stadt. Le Corbusiers «Wohnmaschine» steht im Zeichen hoher Wirtschaftlichkeit und fasst 337 Maisonettewohnungen. Das Interieur bekommt die Zuschauerin und der Zuschauer allerdings nicht zu Gesicht. Der Film endet mit einer Stimme einer Bewohnerin, zu der uns im Film das Gesicht fehlt: Sie schätze die Intimität von Unité d’Habitation und das gleichzeitige Eingebettet-Sein in eine grosse Nachbarschaft. So gesehen verkörpert L’ Unité d’Habitation die Essenz der Parkbank: Man ist Teil eines grossen Ganzen, ohne aktiv am Geschehen teilzunehmen. Der Film trägt den Titel: «Moi aussi, Je regarde». Wenn ich betrachtet werde, erwidere ich den Blick. Darin liegt Macht. Darin liegt Kunst und Imagination.
Das SMAFF verlieh folgende Preise in drei Kategorien:
Die Auszeichnung Bester Spielfilm ging an Aura Satz mit «Preemptive Listening».
Als bester Kurz- und Experimentalfilm wurde «Parsi» von Eduardo Williams ausgezeichnet.
«Love Your Clean Feet on Thursday» von Young-jun Tak gewann den «Love at First Sight-Prize» von Kulm Hotel St. Moritz.
Bettina Gugger
Bettina Gugger verbrachte die letzten Jahre im Engadin, zuletzt war sie Redaktorin bei der «Engadiner Post/Posta Ladina». Nun hat es sie wieder einmal ins Unterland verschlagen, wo sie für den «Anzeiger Region Bern» über das kulturelle Leben Berns berichtet.
2018 erschien ihr Erzählband «Ministerium der Liebe». 2020 folgte «Magnetfeld der Tauben». Im Rahmen eines Stipendienaufenthaltes in Klosters entstand der Kalender «Kunst BERGen», der 24 literarische Texte über Kunst versammelt. Auf bettinagugger.ch veröffentlich sie regelmässig kurze lyrische Prosatexte und einen Podcast für praktische Lebensfragen.
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