23.12.2024 Franco Furger 5 min

Anna fuhr mit dem Auto nach Hause. Wie immer hörte sie sich einen Podcast über Selbstoptimierung an, der ihr in den letzten Monaten neues Selbstvertrauen und innere Ruhe gab. Doch heute war es anders. Die junge Frau fühlte eine seltsame Leere in sich.

Anna war immer eine aufgestellte Person gewesen. Sie hatte es mit allen gekonnt und mit ihrem fröhlichen Wesen selbst den cholerischen Abteilungsleiter besänftigen können. Ihren Ehrgeiz hatte sie stets im richtigen Moment zu zügeln gewusst und auch mal anderen den Vortritt lassen können. 

Geld war ihr nicht wichtig, Ansehen schon. Auch auf schöne Dinge und gutes Essen legte sie wert und sie liebte ihre Wohnung mit der tollen Aussicht. Annas Leben war gut. Sie hatte gute Freunde, wurde geschätzt und war erfolgreich. Nur ihre Beine, auf denen plötzlich eine Schwermut lastete, die sie zuvor nicht gekannt hatte, fand sie etwas zu kurz.

Als Anna nach Hause kam, schenkte sie sich ein zu volles Glas Weisswein ein und setzte sich damit auf den Balkon, obwohl es draussen kalt war. Hier war ihr Lieblingsplatz, sie hüllte sich in eine Wolldecke und blickte über die Lichter ihrer Kleinstadt. Da sie kaum gegessen hatte, fing der Alkohol bald zu wirken an. Zuerst spürte sie ein leichtes Ziehen im Kopf, dann löste sich die Anspannung im ganzen Körper, doch die Leere blieb. 

Sie war traurig, wusste aber nicht warum. Es gab keinen ersichtlichen Grund dafür, mit ihren Projekten war sie auf Kurs und sie hatte sich sehr auf die Skiferien mit ihrem Freund gefreut. Klar, die Wochen vor Weihnachten waren immer stressig. Doch sie liebte die Adventszeit mit ihren Weihnachtsmärkten und den festlich dekorierten Schaufenstern und sie kaufte gerne Geschenke. 

Anna schaute in ihr fast leeres Weinglas, das sie mit den Fingern hin- und herdrehte, nahm den letzten Schluck, und wie der süsse Wein die Kehle herunterlief, fiel ihr eine unglückliche Begegnung ein, die sich neulich im Kaufhaus abgespielt hatte. Anna hatte sich gebückt, um nach einer Blumenvase zu greifen, dabei war sie mit einer anderen Frau zusammengestossen. 

Natürlich hatte sie sich umgehend entschuldigt, doch die ganz in Lila gekleidete Frau schaute sie böse an und sagte bloss: «Ich hasse Weihnachten und Leute wie dich, die sich daran erfreuen. Ich schwöre dir, dieses Jahr wirst du keine Freude am Feiern haben.» Anna waren ihre merkwürdig kleinen und blassen Augen aufgefallen, doch sie hatte nicht weiter über die Frau nachgedacht und die Blumenvase gekauft, ein Geschenk für Ihre Schwester. 

Anna fragte sich, ob diese Frau der Grund für ihre Leere war. Schliesslich hatte sie ihr gedroht. Blödsinn! sagte sie sich, vor Weihnachten spinnen die Leute einfach. Anna fing plötzlich an zu frieren und ging in die Küche. «Der Wein macht mich verrückt, ich muss dringend was essen», dachte sie laut und schnitt eine Avocado auf. Die Frucht war perfekt gereift, schön weich, aber ohne braune Stellen. Anna legte dünne Streifen auf eine Scheibe Sauerteigbrot und verfeinerte alles mit etwas Fleur de Sel und ein paar Tropfen Zitrone.

Der Magen füllte sich, doch die bedrückende Leere blieb. Anna benötigte Ablenkung und ging hinaus auf die Strasse. Sie wohnte nicht weit vom Stadtzentrum entfernt und eilte zur Marktgasse, wo der Abendverkauf lief. Shoppen brachte sie meist auf andere Gedanken und sie benötigte noch ein Geschenk für ihren Lieblingsneffen. 

Mit dem Lift fuhr sie in die Spielwarenabteilung hoch, wo die Schachteln nicht nur in Regalen lagen, sondern sich zu bunten Türmen stapelten. Warum schauen mich hier eigentlich so viele Hexen und Monster an? fragte sich Anna. Gibt es keine normalen Spielsachen mehr? Wo sind die Bauarbeiter, Feuerwehrmänner und Krankenschwestern geblieben? 

«Weisst du, Bauarbeiter, Feuerwehrmänner und Krankenschwestern sind zu wenig geschlechtsneutral. Daher mussten die Spielzeughersteller auf Hexen und Monster umstellen», erklärte ein kleiner Junge, der plötzlich neben Anna stand. 

«Wer bist du, kannst du Gedanken lesen oder habe ich vielleicht laut gesprochen?» Anna war verwirrt. Doch der Junge lachte sie mit freundlichen Augen an. «Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen.» Sie stiegen aufs Dach des grossen Kaufhauses, Anna wusste gar nicht, dass es hier eine Treppe gab.

«Siehst du all die Leute, wie sie hetzen, einkaufen und schwatzen. Sie suchen Frieden, weil sie glauben, sie hätten ihn irgendwo verloren. Doch sie haben ihn nicht verloren, sie sehen ihn nur nicht», sagte der Junge. Anna dachte wieder an die seltsame Begegnung von neulich. «Ich glaube, mir wurde der Friede gestohlen von einer Frau mit merkwürdigen Augen, war sie vielleicht eine Hexe?» 

«Weisst du, den Frieden kann dir niemand stehlen. Frieden ist ein Geschenk, das in dir bleibt. Du musst es nur annehmen und gut behüten, dann gehört es dir für immer.» Anna dachte nach, was der kleine Junge damit wohl meinte. «Ein Geschenk von wem?» fragte sie nach einer Weile. Doch die Antwort blieb aus. Der Junge war weg. 

Anna schaute wieder auf die Strasse hinunter, alles war in Bewegung – bis auf einen Strassenmusiker mitten auf dem Platz. Plötzlich sah sie den Jungen neben ihm stehen, und als er ihr zuwinkte, merkte Anna, dass die Leere ihn ihr verschwunden war.

Franco Furger

Franco Furger ist in Pontresina aufgewachsen und hat am Lyceum Alpinum Zuoz die Matura absolviert. Danach tourte er als Profi-Snowboarder um die Welt und liess sich zum Journalisten ausbilden. Er arbeitete als Medienkoordinator bei Swiss Ski, Redaktor bei der Engadiner Post und World Cup Organisator bei der Corvatsch AG. Im Sommer 2017 bloggte Franco über seine Erlebnisse als «Chamanna Segantini-Hüttenbub». Die Liebe führte ihn dann in die Stadt Luzern, wo er die Sonne und die Bündner Berge vermisste. Nun lebt er als freischaffender Texter mit Frau und Sohn in Laax.