Michel de Montaigne war ein Philosoph und Humanist. Foto: Shutterstock, Spech
Die Parkbank verhalf mir ein Jahr lang zu einer Perspektive, aus der ich meine Gedanken entrollen konnte, in der Hoffnung, die Leserschaft damit anzusprechen, schliesslich sassen alle schon mal irgendwann auf einer Parkbank. Ein gemeinsamer Blickwinkel zu finden, ist in der heutigen Kommunikation nicht mehr selbstverständlich. Vielleicht geht das Bemühen nach Verständigung, das Tasten nach Gemeinsamkeit grundsätzlich der Sprache voraus. Im heutigen Bubble-Dschungel der Ichhaftigkeiten scheint Sprache jedoch eher dazu zu dienen, sich selbst auszudrücken, wobei Social-Media-Kanäle deutlich machen, dass jeder Selbstausdruck wiederum bestätigt werden möchte. Wir alle möchten gesehen werden, was uns wiederum dazu motiviert, die Gedanken der anderen zu lesen, um uns darin wiederzufinden.
Daher scheinen auch die Kolumne und die digitale Form davon, der Blog, so schnell nicht an Reiz einzubüssen. Wir sehnen uns nach Orientierung, nach Inspiration, nach einem sicheren Plätzchen, um Gedanken zu deponieren oder abzuholen, nach einer Parkbank.
Der Jurist und Philosoph Michel de Montaigne (1533-1592) war der erste Autor der Geschichte, der in seinen Schriften Alltägliches zum Thema machte und damit die Gattung des Essays erfand. Im Zeichen des Humanismus schrieb er Meinungsstücke wie «Über die Traurigkeit», «Über die Standhaftigkeit», «Über die Phantasie», «Über die Freundschaft», aber auch über Kriegsführung oder «Über das Widerstreben, seinen Ruhm mit anderen zu teilen». Die erste moderne Gesamtausgabe umfasst über 100 Essays. Salopp ausgedrückt ist der Essay der Vorgänger der Kolumne, die sich durch ihre Prägnanz auszeichnet. Streng genommen gleicht auch dieser Blog eher einem Essay als einem Blog, wobei er für einen Essay wiederum etwas zu kurz ist: Ich bemühe mich, beim Wesentlichen zu bleiben und nur die Seitenpfade einzuschlagen, die eine herrliche Aussicht versprechen.
In Zeiten der Atomisierung der Gesellschaft und der Auflösung bekannter Strukturen will ich in diesem Jahr Montaignes Gedanken ins Heute tragen und damit dem grassierenden Nihilismus die Stirn bieten: Seine existenziellen Gedanken über Leben, Sterben und zwischenmenschliche Beziehungen bleiben auch knapp 450 Jahre nach seinem Tod aktueller denn je. Oder anders ausgedrückt: Wir sind weder verkommener noch geistig weiterentwickelter als Montaignes Zeitgenossen. Das macht doch Hoffnung. Wir sind immer noch Menschen.
Der erste Beitrag des Jahres gilt dem «Dünkel». Nicht dass der Dünkel eine Engadiner Eigenart wäre, ganz im Gegenteil, wobei laut Übersetzungsdienst von Uniun dals Grischs das Vallader über zehn Ausdrücke dafür kennt. Hoppla. Nein, der Dünkel ist etwas Universelles und die deutsche Sprache versteckt ihn heute geschickt hinter dem Begriff «Narzissmus», von dem jeweils alle anderen betroffen sind, nur man selbst nicht…
Verstehen die Jugendlichen diesen antiquierten Ausdruck noch? Die deutschsprachigen Jugendlichen dürften ihre liebe Mühe damit haben. Dabei ist die Jugend die Zeit des Dünkels schlechthin. Montaigne schrieb über den Dünkel: «Hierbei handelt es sich um einen vernünftiger Überlegung unzugänglichen Hang, durch den wir der Eigenliebe verfallen und uns vorteilhafter sehen, als wir sind – wie ja Liebe überhaupt den Gegenstand ihrer Leidenschaft schöner und reizvoller scheinen lässt und bewirkt, dass die Urteilskraft der davon Ergriffenen sich verwirrt und trübt und sie nun das, was sie lieben, anders und vollkommener finden denn in Wirklichkeit.»
Wir mögen an all die Fitnessinfluencerinnen und - Influencer denken, die auf Social Media ihre gestählten Körper präsentieren, als ob ihr Lebensglück von der perfekten Erscheinung abhinge – und ja, in vielen Fällen hängt ihr Lebensglück tatsächlich davon ab. Sie leben von der Aufmerksamkeit ihrer Follower, die ihnen zu Reichweite und Werbeverträgen verhelfen. Diese Zurschaustellung des perfekten Körpers, und die damit verbundene Disziplin und Ernsthaftigkeit, mit der der eigene Körper geformt und bearbeitet wird, hat etwas Groteskes angesichts des unausweichlichen Alterns. All diese Anstrengungen sind auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt. Was bleibt davon übrig in zwanzig, dreissig, vierzig Jahren?
Jene Influencer investieren in ihre Zukunft, indem sie sich der «Persönlichkeitsentwicklung» verschreiben, einem Coachingzweig, der wiederum den Dünkel nährt und den Einzelnen anleitet, noch schöner, bekannter und reicher zu werden, kurz: Sich zu optimieren. Gegen entsprechende Bezahlung. Ethik, moralisches Handeln, ein konstruktives Miteinander, intellektuelles und kreatives Wachstum, Nachhaltigkeit usw. kommen darin selten vor. Im Zentrum steht das eigene Ich.
Laut Montaigne hat der Dünkel zwei Seiten: «Sich selber zu hoch einzuschätzen, und die anderen nicht hoch genug.» Auf dem modernen Markt der Aufmerksamkeit und Eitelkeit kommt der andere höchstens als Follower vor, als Zuschauer.
Montaignes beschreibt sich selbst als frei vom Dünkel, indem er seine unvorteilhaftesten Charakterzüge und menschlichen Schwächen offenlegt. «Alle Welt richtet den Blick aufs Gegenüber, ich jedoch nach innen; dort halte ich ihn dauerhaft beschäftigt. Jeder schaut vor sich, ich in mich. Nur mit mir habe ich es zu tun. Ich beobachte mich ohne Unterlass, prüfe mich, verkoste mich. Die andren sind stets und ständig anderswohin unterwegs (was sie bemerken würden, wenn sie einmal darauf achteteten…» Dass solche Selbstoffenbarungen einst derart ausarten, dass es einem die Fremdschamesröte ins Gesicht treibt, hätte sich der Essayist wohl nie träumen lassen. Selbstoffenbarung generiert auf Social Media wiederum Aufmerksamkeit und befriedigt den Geltungsdrang, nichts ist zu intim, um es nicht mit der ganzen Welt zu teilen – abgesehen von politischen Meinungen. Nicht die übertriebene Beschäftigung mit dem Körper oder dem eigenen Inneren scheint das Problem zu sein, sondern das Fehlen von Innerlichkeit, die das Nachdenken über Leben und Sterben, das Alltägliche, das Zwischenmenschliche bedarf…
Michel de Montaigne: Essais. Erste moderne Gesamtausgabe von Hans Stilett. AB – Die Andere Bibliothek. Berlin, 2016
Bettina Gugger
Bettina Gugger verbrachte die letzten Jahre im Engadin, zuletzt war sie Redaktorin bei der «Engadiner Post/Posta Ladina». Nun hat es sie wieder einmal ins Unterland verschlagen, wo sie für den «Anzeiger Region Bern» über das kulturelle Leben Berns berichtet.
2018 erschien ihr Erzählband «Ministerium der Liebe». 2020 folgte «Magnetfeld der Tauben». Im Rahmen eines Stipendienaufenthaltes in Klosters entstand der Kalender «Kunst BERGen», der 24 literarische Texte über Kunst versammelt. Auf bettinagugger.ch veröffentlich sie regelmässig kurze lyrische Prosatexte und einen Podcast für praktische Lebensfragen.
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