Es hat ein paar Monate gedauert, bis Gaudenz Zimmermann Antworten aus Wien erhalten hat. Er wollte erfahren, ob die Wiener Kongresstorte möglicherweise von einem Engadiner stammen könnte. Das Rezept ist nämlich der Engadiner Nusstorte so ähnlich, dass sich eine vertiefte Recherche geradezu anbot. Gaudenz Zimmermann hat über zehn Jahre lang zur Geschichte der Engadiner Nusstorte geforscht. Unter anderem hat er entdeckt, dass das erste dokumentierte Rezept für eine Engadiner Nusstorte 1881 aus der Confiserie «Heinz&Tester» in Toulouse stammt, einem von Engadiner Zuckerbäckern geführten Unternehmen. 

Sämtliche Rechercheergebnisse hat Gaudenz Zimmermann im vergan­genen Juni an das Kulturarchiv Oberengadin übergeben. Zur neuen Recherche über die Wiener Kongresstorte hat ihn ein EP-Leser animiert, der nach der Lektüre des entsprechenden Artikels die starke Ähnlichkeit zwischen den zwei Spezialitäten feststellte.

Die Konditorei Oberlaa in Wien verkauft die Kongresstorte noch heute. Das Unternehmen schreibt in seiner Werbung: «Besonderen Eindruck hinterliess ein Zuckerbäcker mit seiner köstlichen Nusstorte, die dann bald zur Lieblingstorte der Wiener Kongressteilnehmer wurde» (Wiener Kongress 1814–1815). Könnte dieser ein Engadiner gewesen sein? Die Engadiner Zuckerbäckerfamilien waren um diese Zeit europaweit gut vernetzt und hatten Konditoreien und Kaffeehäuser in vielen grossen Städten. 

Auf Anfrage von Gaudenz Zimmermann schreibt Christian Haury von Oberlaa: «Wir vermuten, dass Karl Schuhmacher, der Gründer der Konditorei Oberlaa, auf seinen zahlreichen Schweiz-Besuchen möglicherweise von der Engadiner Nusstorte inspiriert worden sein könnte.» Da dieser 2020 verstorben ist, kann die Vermutung nicht mehr verifiziert werden.

Auch Experten wissen nicht mehr
Gaudenz Zimmermann liess sich nicht entmutigen und verschickte weitere Anfragen nach Wien, unter anderem an Bernhard Wies. Gemeinsam mit Michael Rathmayer hat er das Standardwerk «Wiener Zuckerbäcker» herausgegeben. Seine Antwort: «Leider weiss ich nichts Näheres über die Entstehung der Kongresstorte.» Dieses Wissen sei leider sukzessive verloren gegangen. «Ich nehme an, dass man es nur mehr in antiquarischen Büchern findet, von denen es aber auch nicht allzu viele gibt. Schade eigentlich» , schreibt Bernhard Wies.

Beim österreichischen Staatsarchiv hat Gaudenz Zimmermann keinen Eintrag zur Kongresstorte gefunden, dafür aber bei der Österreichische National-Bibliothek. In zwei Zeitungen wird die Kongresstorte genannt.

Die Torte als Modeerscheinung?
Ein Artikel im «Mittagsblatt des Neuen Wiener Journals» vom 26. März 1919 widmet sich dem Wiener Kongress. Darin heisst es unter anderem: «Der berühmteste aller Kongresse aber, von dem Geschichte, Sage und Anekdote am meisten zu erzählen und zu berichten wissen, ist der Wiener Kongress. Es ging bekanntlich so weit, dass die Mode sich richtete, ja dass eine sehr schöne Torte ‹Kongresstorte› bis auf den heutigen Tag genannt wird. Möchte der Versailler Kongress dafür Sorge tragen, dass wir bald wieder diese Torte essen können.»

Im «Linzer Volksblatt» vom 7. Oktober 1949 lautet der Titel eines Artikels: «Geschmackvoll im wahrsten Sinne des Wortes». Darin geht es um die Ausstellung am Konditoren-Kongress in Salzburg. In einer Passage heisst es: «Aus der Fülle der Prachtgebilde seien hervorgehoben: Eine Kongresstorte mit dem österreichischen Adler und dem Wappen Rot-Weiss-Rot».

Während seiner Recherchen hat Gaudenz Zimmermann in Wien noch eine weitere Entdeckung gemacht. Die «Conditorei Sluka», gegründet 1891 in Wien, verkauft eine «Engadiner Nusstorte» mit Mürbeteig, Walnüssen und Kara­mell sowie dunkler Kuvertüre. Tatsächlich wird auf der Internetseite auch transparent angegeben, dass diese Torte aus dem Engadin stammt.

«Engadiner Torte» mit Schokolade
Zu welchem Fazit gelangt der Nusstorten-Forscher nach seinem Exkurs in Wien? «Weder die Befragung namhafter Autorinnen und Autoren von Konditorei- und Backwarenbüchern noch Onlinerecherchen bei einigen österreichischen Bibliotheken und Archiven haben schlüssige Ergebnisse über die Geschichte der Wiener Kongresstorte ergeben», so Gaudenz Zimmermann. Der einzig verwertbare Hinweis zur Kongresstorte sei jener im «Mittagsblatt des neuen Wiener Journals» aus dem Jahre 1919. Es fehlen aber jegliche Angaben über Aussehen und Ingre­dienzen der Torte.

«Aufgeben möchte ich aber noch nicht», sagt der Nusstorten-Experte. Er vermutet, dass die Engadiner Zuckerbäckerfamilie Gritti, die bereits im 18. Jahrhundert in Wien ansässig war, in der Geschichte der Kongresstorte involviert war. Für jegliche Hinweise über die Konditorei Gritti in Wien ist Gaudenz Zimmermann dankbar. Fortsetzung folgt.