Zieht man vom Unterland ins Engadin oder verbringt die Ferien in der Gegend, fällt es sofort auf: Die Nächte sind noch dunkel, dafür der Sternenhimmel umso funkelnder. Lichtverschmutzung ist ein Fremdwort und die Bewohnerinnen und Bewohner dieser Gegend gehören ganz sicher nicht zu den 99 Prozent von Europäern, die nachts keine Sterne mehr am Himmel sehen. Dies ist keine subjektive Schönfärberei respektive Verdunkelung, sondern lässt sich auf der Lichtverschmutzungskarte glasklar ablesen. Erstrahlen dort Städte wie Zürich, Mailand oder Rom in hellstem Purpur, breitet sich über dem Engadin eine dunkelblaue Wolke aus. Heisst, die Lichtverschmutzung respektive Beleuchtung ist hier marginal im Gegensatz zu derjenigen in den Metropolen.

Zu viel Licht beeinträchtigt
Gleichwohl findet Reto Marty, dass der stetig zunehmenden Helligkeit in den Dörfern entgegengewirkt werden sollte, denn das viele Licht beeinträchtigt nicht nur die Natur, sondern stört auch die Menschen in den Häusern. Marty engagiert sich gegen zu viel oder falsch eingesetzte Lichtquellen – von Berufs wegen. Denn der gelernte Elektrozeich­ner ist spezialisiert auf Lichtplanung und -design. Dazu hat er nach seinem Architekturstudium ein Nachdiplom in Lichtplanung angehängt und betreibt seit 2005 sein eigenes Büro in Zürich. Unlängst hat er in Scuol eine Zweigstelle eröffnet, weil er mit seiner Frau Inga dort im Frühling die Zelte aufgeschlagen hat. 

Tatsächlich spürt man bei ihm die Begeisterung für das Licht vom ersten Satz an. Alsbald beginnt er über Licht und Dunkelheit zu referieren, über die Wirkung, welches gut eingesetztes Licht erzielen kann oder sinniert darüber, dass Licht an sich schwierig zu beschreiben und nicht als greifbarer Gegenstand erhältlich ist.

Anhand von Vorher-Nachher-Bil­dern lässt sich dann aber die Wirkung einer effektiven Lichtgestaltung und Beleuchtung bestens ablesen. Dies ist nun für Ardez der Fall oder auch für einige Bauwerke in Scuol. Denn Marty obliegt mit seinem Büro die Aufgabe für die Gemeinde Scuol, den Plan Lumière auszuarbeiten und umzusetzen. Mit diesem Vorschlag meldete er sich vor einiger Zeit bei der Verwaltung, worauf diese unter drei Büros seines auserkor, eben diesen Plan zu erstellen. 

Zu viel Licht am falschen Ort
Dazu beschäftigte er sich zuerst mit der Ausgangslage und stellte fest, dass viele Leuchten in der Gemeinde veraltet und ineffizient sind, heutigen Anforderun­gen nicht mehr genügen, oder dass die Beleuchtung auch nachts mit voller Leistung leuchtet, unabhängig davon, ob das jemand braucht oder nicht. Vor allem aber fiel ihm auch auf, dass charakteristische Bauwerke unschön ins Licht gerückt waren und dass es durchaus Orte gibt, bei denen Lichtverschmutzung ausgemacht werden kann oder einfach zu viel vom Licht an der falschen Stelle. Zum Beispiel eine Stra­ssenlampe an einem Engadinerhaus, welche vor allem die Hausmauer erhellt – und nicht die Strasse.

Die Erkenntnisse aus der Ausgangslage und die darauffolgende Analyse hat das Team von «nachtaktiv», so heisst das Büro von Reto Marty, dann in ein Konzept und ein Handbuch gegossen. Dabei setzt das Konzept die Ziele und beschreibt die Idee der Beleuchtung, während das Handbuch die technischen und gestalterischen Angaben der Beleuchtung definiert. Schliesslich will die Philosophie des Lichtkonzepts nichts weniger, als «mit einem dezenten Licht und einem dynamischen Verlauf in der Nacht ein angemessenes, nächtliches Erscheinungsbild der Gemeinde Scuol erreichen». 

Licht gezielt eingesetzt
Weniger soll hier mehr sein. Weniger Licht also, dafür gezielt eingesetzt und intelligent gesteuert. Selbstverständ­lich ist dabei das Lichterlöschen kein Thema, schliesslich soll die neue Beleuchtung für Sicherheit und Orientierung sorgen. Zu helle Lampen, so erklärt Marty, würden diesbezüglich aber nichts bringen. Im Gegenteil: Zu helle Lampen blenden die Menschen, worauf diese das Umfeld nicht mehr wahrnehmen können. Grundsätzlich will «nachtaktiv» deshalb das Licht gezielt einsetzen, dynamisch steuern, auch hinterfragen, ob es diese und jene Lichtquelle überhaupt braucht und dies alles im Einklang mit der Natur umsetzen. Denn dass Licht einen Einfluss auf diese hat, ist unbestritten. Licht kann Insekten anlocken, Zugvögel bei der Orientierung stören, genauso auch den Schlaf-Wach-Rhyth­mus von Menschen durcheinanderwerfen oder eben den Himmel so erhellen, dass die Sterne daneben quasi verblassen.

Anschauung in Ardez und Scuol
Wie sich die Resultate aus all diesen Überlegungen, Theorien und Philoso­phien präsentieren, lässt sich mittler­weile an einigen Gebäuden in Scuol und an der ganzen Ortsbeleuchtung in Ardez beobachten. In Scuol beispielsweise erstrahlt die reformierte Kirche oder auch das Talmuseum in neuem Licht. Ein dezentes und warmes Licht erleuchtet nun das Gotteshaus, nachdem dieses zuvor grünlich erschien. Dass praktisch keine Lichtstreuung entsteht, liegt an der Technik. Tatsächlich kommen dabei Masken zum Einsatz, auf welchen die Konturen der Kirche ausgelasert sind. Gleiches auch beim Museum, welche ebenfalls in einem warmen Licht erscheint. Neben einem würdigen Erschei­nungsbild der Gebäude wird die räumliche Wahrnehmung nun auch in den Nachtstunden wieder greifbar.

In Ardez kommt die Strassenbeleuchtung nun einheitlich daher, überflü­ssige Lichtquellen wurden eliminiert oder so gesteuert, dass sie nur noch dann leuchten, wenn auch tatsächlich Leute unterwegs sind, heisst zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens strahlen die Lampen nur mit einer reduzierten Intensität. Dafür erhellen die Lampen nun tatsächlich die Strassen und Plätze und nicht mehr die Fassaden und die Wohnstuben – jedenfalls fast überall. Und auch den Himmel erhellen sie nicht mehr, sodass Bewohner und Gäste sich weiterhin am Sternenmeer erfreuen können. 

Autor: Jürg Wirth

Dieser Beitrag ist erstmals im Gästemagazin «Allegra» erschienen.