In einer tief verschneiten Landschaft zieht ein gebeugter Mann einen Schlitten mit Holz, vor ihm eine von der Sonne beschienene imposante Landschaft, über ihm der blaue Himmel mit ein paar weissen Wolken. Sein Heim scheint nah, die mit Schnee bedeckten Hausdächer sind bereits zu sehen. Das Bild von Cesare Maggi (1881-1961) heisst «Der Schlitten», stammt aus dem Jahr 1908, sowohl Motiv als auch Stil erinnern stark an Giovanni Segantinis (1858-1899) bekanntes Werk «Rückkehr vom Wald». Dieses zeigt eine ältere Frau, die in der Dämmerung einen Schlitten mit totem Holz in Richtung eines verschneiten Dorfes zieht.
Beide Bilder sind im divisionistischen Stil (siehe Kasten) mit winzigen Pinselstrichen gemalt. Beide Künstler haben Wert darauf gelegt, dem Schnee mit verschiedenen Farbschichten und einer speziellen Kratztechnik Struktur zu verleihen.
Segantini und seine Verehrer
Schnee ist ein beliebtes Sujet in der mittel- und nordeuropäischen Malerei. Seit der Romantik und dem Realismus hat Malerinnen und Maler die Frage umgetrieben, wie man Schnee in der Malerei darstellen kann. In der aktuellen Sonderausstellung im Segantini Museum werden neben Werken von Segantini Bilder weiterer Maler seiner Zeit gezeigt. Alle Künstler wurden zwischen 1850 und 1880 geboren. «Ich wollte zeigen, wie stark Segantini mit seiner Technik und auch mit seinen Themen die Zeitgenossen beeinflusst hat», erklärt Mirella Carbone, künstlerische Leiterin des Segantini Museums.
Gleich mehrere Künstler jener Zeit hätten sich ausdrücklich als Schüler Segantinis bezeichnet. Sie seien auf seinen Spuren auch ins Engadin gepilgert. So war beispielsweise der Italiener Giuseppe Pellizza (1868–1907) ein glühender Verehrer des Alpenmalers. Einige Jahre nach dessen Tod unternahm Pellizza eine Reise auf Segantinis Spuren ins Engadin und nach Savognin. «Diese Berglandschaft hat ihn so inspiriert und berührt, dass er länger blieb», erzählt Mirella Carbone. In der Sonderausstellung hängt eine Zeichnung mit Bleistift und Kreide von Pelizza, welche den Titel «Berggruppe bei Pontresina» trägt. Diese grafische Arbeit ist klar als Hommage an Segantini zu verstehen.
Zwischen Licht und Schatten
Als besondere Entdeckung bezeichnet Mirella Carbone das Bild «Weisses Begräbnis» des Tessiners Edoardo Berta (1867–1931). Zu sehen sind junge Mädchen in weissen Kleidern und durchscheinenden Schleiern. Sie laufen als Trauerzug entlang einer Friedhofsmauer. «Weisses Begräbnis» ist Bertas Hauptwerk. Er arbeitete ein ganzes Jahr daran und stellte es zum ersten Mal 1901 in Vevey aus. Das Gemälde machte den Künstler auf einem Schlag bekannt.
Das Bild zeigt eine kahle Landschaft, das Licht wirkt gedämpft. »Man hat das Gefühl, dass die Landschaft mittrauert», meint Mirella Carbone. Auffallend sind allerdings die beiden Mädchen in der Mitte des grossflächigen Bildes: Sie scheinen als einzige heiter miteinander zu tuscheln oder zu tänzeln und strahlen mit ihren Kerzen heller als die anderen Mädchen. «Sie sind wie eine Oase der Ausgelassenheit.»
Dass sie dieses Bild für die Sonderausstellung gewinnen konnte, freut Mirella Carbone besonders. Das Gemälde wird vom Museo d’arte della Svizzera italiana sehr selten ausgeliehen. Die hellen Farbschichten waren nämlich von Anfang an sehr fragil, aus diesem Grund fertigte Berta bald eine Kopie davon, die heute in den Kunstsammlungen der Stadt Locarno zu sehen ist.
Aussergewöhnliche Leihgaben
Zu den Höhepunkten der Schau zählen das äusserst selten ausgestellte Meisterwerk Segantinis «Savognin im Winter» von 1890 aus Privatbesitz sowie Giovanni Giacomettis farbenprächtige «Winterlandschaft» von 1910, eine Leihgabe des Bündner Kunstmuseums. «Savognin im Winter» wurde bisher äusserst selten in der Schweiz ausgestellt.
Der verschneite Vordergrund füllt fast die halbe Leinwand aus, der Schnee strahlt regelrecht. Das Gemälde stellt eine reine Landschaft ohne Menschen und ohne landwirtschaftliche Tiere dar. Lediglich die Alpendohlen scheinen mit ihrem tiefen Flug noch mehr Schnee anzukündigen.
Von Abschied und Neubeginn
Giacometti war Segantinis Schüler bis zu dessen Tod und liess sich stark vom Stil und der Technik des Maestros beeinflussen. «Er war fast ein Doppelgänger von Segantini», sagt Mirella Carbone. Giacomettis «Winterlandschaft» allerdings hebt sich von den anderen Bildern der Sonderausstellung deutlich ab. «Als Segantini am 28. September 1899 plötzlich starb, hatte Giacometti zuerst das Gefühl, sein Leuchtturm sei erloschen», sagt Mirella Carbone. Doch dieser Tod sei für ihn auch eine Erlösung gewesen, denn so konnte er endlich seinen eigenen Stil finden.
Er gab die divisionistische Technik auf und fing an, zu experimentieren. So fand er seinen eigenen Stil, der als Kolorismus bekannt ist. So wirkt «Winterlandschaft» dynamischer und bunter als die divisionistischen Bilder im Raum. Der Himmel ist rosa-grün-blau, der Schnee hauptsächlich rosa und gelb – und doch klar als Schnee zu erkennen.
Noch weitere Entdeckungen
Zur kleinen Sonderschau gehören auch Werke von Carlo Fornara (1871–1968), Angelo Morbelli (1853–1919) sowie weitere Winterbilder von Segantini. Weil kaum ein Museum oder ein Privatsammler seine Segantini-Werke länger als fünf Monate ausleiht, ist es dem Segantini Museum nicht möglich, ganzjährig eine Sonderausstellung zu zeigen. Im Sommer wurde eine Sonderschau zu den Frühwerken von Segantini gezeigt, im Winter steht nun das Motiv Schnee im Fokus. Beide Ausstellungen entstanden im Rahmen der Gemeinschaftsausstellung von 14 Kulturhäusern, «Splendur e sumbriva – Licht und Schatten im Engadin», welche der Verein «Chesas da cultura Engiadina» realisiert und noch bis April 2025 dauert.
Die Sonderausstellung «Alle Farben des Schnees» ist noch bis zum 20 April 2025 zu sehen. An den Sonntagen 12. und 26. Januar, 9. und 23. Februar, 16. und 30. März sowie 13. April, jeweils um 17.00 Uhr, führt Mirella Carbone durch die Sonderausstellung.
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