Ihre Stimme am Telefon überrascht: Sie tönt nicht wie jene einer alten Dame, sondern ist kräftig und klar. Im Gespräch bestätigt sich der erste Eindruck. «Bis im vergangenen Jahr bin ich noch Velo gefahren, ich muss immer in Bewegung sein», erzählt Chatrina Howald. Auch fahre sie noch Auto und lebe eigenständig in einer Wohnung in Volketswil. Ein Jubiläum ist der Anlass des Anrufs: 40 Jahre Abonnentin der «Engadiner Post». Seit 1985 wird die Zeitung zu ihr in die Deutschschweiz geschickt.
Chatrina Howald spricht zunächst Puter, wechselt dann aber ins Jauer. Ihre Eltern waren Münstertaler und sind wegen der Arbeit ins Oberengadin gezogen. Der Vater war Sekundarlehrer. Aufgewachsen sind Chatrina Howald und ihr Bruder in St. Moritz, die Sommer verbrachten sie bei der Grossmutter und Grosstante in der Val Müstair. «St. Moritz war damals ganz anders als heute», erzählt sie. Es sei eine geteilte Gesellschaft gewesen: die Gäste in den Hotels und die Einheimischen. In der Zwischensaison habe das Dorf nur den Einheimischen gehört. «Wir haben in dieser Zeit sehr schöne Feste gefeiert», erzählt sie.
«Alles, was ich brauche, ist Sonne»
Ihren Ehemann lernte Chatrina Howald bei der Arbeit in der Filiale der Credit Suisse in St. Moritz kennen. Er war Bankbeamter, sie Sekretärin. Gemeinsam zogen sie 1956 zuerst nach Witikon, dann nach Binz im Kanton Zürich, wo sie während 30 Jahren lebten. In Volketswil lebt die Engadinerin, seit ihr Mann verstorben ist. Dort gefällt es ihr sehr gut. «Alles, was ich brauche, ist Sonne», sagt sie. In Volketswil scheine die Sonne öfter als an anderen Orten im Kanton Zürich. Als ihre Eltern noch lebten, besuchte Chatrina Howald St. Moritz oft. Im Winter ging sie Ski fahren und Winterwandern, im Sommer in die Berge. «Heute kann ich nicht mehr weite Strecken laufen und spaziere im Winter am liebsten in Sils auf dem See, wenn ich im Oberengadin bin», erzählt sie.
Nie über das Alter nachgedacht
Sie müsse lernen und sich damit abfinden, alt zu werden, sagt Chatrina Howald. Mit «alt werden» meint sie vor allem, weniger mobil zu sein und aufs geliebte Velofahren zu verzichten. Sie sei Zeit ihres Lebens aktiv gewesen, habe auch viel klassischen Tanz trainiert. «Ich habe nie über mein Alter nachgedacht, das hat erst mit 90 Jahren angefangen», sagt sie. Anlass sei das Geburtstagsfest gewesen, wo ihr das hohe Alter durch Hinweise von Freunden bewusst geworden sei. Ihre Freunde seien alle jünger als sie, die Familienmitglieder seien verstorben.
Im Engadin lebe niemand mehr, den sie kenne. «Bin ich in St. Moritz, fühle ich mich heute wie eine Touristin», sagt sie. Im Herbst könne sie nicht einmal mehr eine Freundin anrufen, um zu fragen, ob die Lärchen bereits gelb seien. Nur die Natur sei gleich geblieben. Stundenlang könne sie auf einer Bank sitzen und die Bergwelt betrachten.
Über 90-Jährige werden unsichtbar
Über die «Engadiner Post» hat sich Chatrina Howald stets auf dem Laufenden gehalten, was im Engadin passiert. Inzwischen liest sie die Zeitung nicht mehr regelmässig. «Ich kenne niemanden mehr im Tal und viele Themen interessieren mich nicht mehr, weil sie mich nicht betreffen», erklärt sie. Dass sie die «Posta Ladina»auf Romanisch lesen kann, schätze sie aber. Sprechen kann sie ihre Muttersprache im Alltag nämlich nicht. Ab und zu denke sie aber noch auf Romanisch.
Was Chatrina Howald feststellt ist, dass ihre Generation nicht nur am Aussterben ist, sondern die über 90-Jährigen für die Gesellschaft unsichtbar sind. «Wir werden nicht mehr wahrgenommen.» Auch in der Zeitung gebe es kaum Geschichten, welche betagte Menschen betreffen. «Ab und zu fühle ich mich wie jemand, der alleine auf einer Insel herumläuft», sagt sie. Natürlich sei sie dankbar dafür, in ihrem Alter noch so fit zu sein. Sie wolle nicht klagen, jeden Tag sei sie noch draussen unterwegs. Aber nicht mehr ernst genommen zu werden, das sei keine schöne Erfahrung im letzten Lebensabschnitt. Schliesslich könne man ja noch sprechen und sich «einigermassen ausdrücken« – auch mit 92 Jahren.
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