Nur zwei Wochen war der Commissa­rio für Geschäfte in Chiavenna, doch kaum ist er zurück in Bever, stellt er befremdliche Veränderungen fest: Kutschen aus Metall fahren durch sein Heimatdorf, die Menschen haben keine Hüte auf ihren Köpfen und die Damen erdreisten sich, Hosen zu tragen. Jakob Emanuel Pool versteht die Welt nicht mehr. Doch immerhin, der Fremdenverkehrsminister und der Kulturminister sind ebenfalls anwesend in der Engadiner Stube der Schenke, gleich gegenüber der Kirche. Und so lässt sich der wohlhabende Kaufmann erst einmal ein gutes Glas Rotwein und frisches Brot zur Stärkung bringen. 

Der Schauspieler Lorenzo Polin ist sehr überzeugend in seiner Rolle, was nicht nur am Dreispitz, der Perücke und den Knickerbocker-Hosen liegt. Sein Gebaren ist fürstlich. Tourismusmanager Fabian Scheeder und Gemeindeverwalter Renato Roffler teilen sich normalerweise die wöchentlichen Dorfführungen in Bever. An diesem Mittwochabend sind sie allerdings gemeinsam mit 17 anderen Interessierten lediglich Gäste. Es ist die erste szenische Dorfführung durch Bever. 

Reichtum für jedermann sichtbar
Die Taschenuhr von Jakob Emanuel Pool ist auf der beschwerlichen Reise in der Postkutsche stehen geblieben und um sie aufzuziehen, begibt er sich zum Dorfschmied. Es schneit leicht, was ihn nicht davon abhält, immer wieder bei ortsbaulich bedeutenden Bauwerken im Dorf anzuhalten und seinen Gästen mehr über sein Heimatdorf zu erzählen. Vor allem die imposanten Häuser der Zuckerbäckerfamilien Pool und Orlandi, sowie die Patrizierhäuser von Salis haben es ihm angetan. Sie machen den Reichtum der Besitzerfamilien für jedermann sichtbar. 

Die Chesa Pool, die heutige Chesa Crusch Alva, ist prominent neben der Kirche platziert, mit einer steinernen Treppe, die beidseitig bis zum Eingang führt. Wie ein König steht der Eigentümer zuoberst am schmiedeisernen Geländer und blickt auf die Gästeschar hinunter. Auf eine Rede verzichtet er angesichts des Schneetreibens dann doch.

Brunnen zu Ehren des Schaffängers
Weiter geht es unter das Tor, das erst 1930 aus statischen Gründen erstellt wurde, als die Strasse verbreitert und dafür eine Hausecke abgetragen wurde. Das weiss der Kulturminister zu erzählen, der wesentlich jünger als der Mann aus dem 18. Jahrhundert ist. Die Chesa Wazzau ist dem Dorfführer nur einen kurzen Stopp wert. Besonders ist es, weil Wohnhaus und Stall nebeneinander liegen.

Auffallend ist auch der Schafbrunnen, der an Gaudenz Pool erinnert. «Er war besonders talentiert, auch die wildesten Engadiner Schafe einzufangen», erfindet Jakob Emanuel Pool, da der Brunnen erst seit einigen Jahrzehnten da steht.

Verschwägert und verbrüdert
Beim Salis-Haus angekommen weist der Dorfführer auf die Wappen hin: jenes der Familie Pool mit St. Paulus und jenes der Familie Muralt mit der Burg. Auch das Wappen der Familie von Salis mit dem Baum ist auf der Fassade zu sehen. «Dieses Haus gehörte ursprünglich meiner Familie und wurde dann von Rudolf von Salis Muralt übernommen», erklärt er. 1883 liess der Eigentümer es von Architekt Nicolaus Hartmann Senior renovieren. «Verschwägert, verbrüdert, verbunden» hätten sich die grossen Beverser Familie im Laufe der Jahrhunderte, dies mit dem Ziel, Besitz und Macht zu erhalten. «Immer wieder hatten unsere Familien bedeutende politischen Ämter inne», erzählt Jakob Emanuel Pool.

Eigenes Land bis in Italien
Am Dorfeingang entlang der alten Talstrasse ist die beeindruckende Chesa Orlandi gelegen. «Wenn man auf Bever zufährt, vom Albulapass oder vom Unterengadin her kommend, fällt der Blick zuerst auf dieses Gebäude», erzählt Jakob Emanuel Pool. Ursprünglich sei es als Bauernhaus gebaut worden, das erst 1822 als herrschaftliches Wohnhaus erweitert wurde. Orlandi sei eine sehr einflussreiche Familie gewesen, Zuckerbäcker in Dresden, Wien und Breslau, Grossgrundbesitzer im Oberengadin, inklusive der Acla Siciliana und der Acla Serlas. Im Thurgau besassen sie sogar das Schloss Mammertshofen. «Es heisst, die Orlandi konnten bis nach Italien auf eigenem Land laufen, so viel Land besassen sie», erzählt der Dorfführer.

Vieles ist nicht mehr
Auf dem Rundgang durch die Gassen, fällt Jakob Emanuel Pool auf, dass während seiner Abwesenheit viel verschwunden ist. Das Backhaus ist nicht mehr. An die Schmiede erinnert nur noch der Strassenname Fuschigna. Ärgerlich, denn so bleibt die Uhr weiterhin ausser Funktion. Dafür ist das Lügenbänklein noch da, il «baunchin da las manzögnas». «Dort darf man immer noch offiziell lügen», meint Jakob Emanuel Pool. 

Den letzten Halt will er bei der Mühle und der Färberei einlegen, 1721 erstmals erwähnt und einzigartig im Engadin. Doch hier stehen inzwischen nur Wohnhäuser. Der Commisario braucht nach diesem Schock erst einmal eine Stärkung in der Militärkantine. Bevor er seinen Dreispitz ablegt, verrät er noch: «Man munkelt, hier wirke ein Geheimbund, die Bever Loge». Und schon verabschiedet er sich wieder mit wehendem Rock.