Es ist Abend geworden in der Val Cluozza. In der auch kurz vor Saisonende voll besetzten Chamanna Cluozza wird das Abendessen serviert. Wir beide sitzen an einem Tisch mit drei weiteren Gästen. Reto beginnt zu erzählen. Wie interessant es war, als er 1992 als Sommer-Parkwächter begann und sogleich in dieses eher abgelegene Tal geschickt wurde, weil es den etablierten Parkwächtern oft zu weit weg war. Auf die Frage, was er denn als die wichtigste Eigenschaft ansieht, die ein Parkwächter haben muss, kommt sofort die Antwort: «Er muss die Ruhe haben, beobachten zu können.» Nur mit Beobachtungsgabe sei es möglich, Veränderungen über die Zeit erkennen und auch belegen zu können. Natürlich meint Reto hier die Beobachtungen der Tiere: Rothirsche, Gämsen, Steinwild und viele mehr. Er war als Praktiker dabei, als vor Jahren der berufsbegleitende Lehrgang «Wildhüter mit eidg. Fähigkeitsausweis» aufgebaut wurde. Alle Parkwächter des Nationalparks haben diese Ausbildung abgeschlossen. Und nein, trotz allem Bemühen und Beobachtungsgabe sei es ihm aber noch nie gelungen, einen Wolf zu beobachten. Vielleicht, weil es bisher in der Val Cluozza kaum Wölfe gab?
Aber anderes ist dem erfahrenen Parkwächter aufgefallen. Mit Blick in den voll besetzten Aufenthaltsraum der Chamanna Cluozza meint er: «Zu meinen Anfangszeiten wurde die Chamanna Cluozza zwei bis drei Wochen früher geschlossen als heute. Es wurde einfach zu kalt, die Wasserleitungen sind im Oktober eingefroren. Um Schäden zu vermeiden, haben wir die Hütte geschlossen.» Ein schlichter, aber präziser Hinweis, dass es in den Alpen wärmer geworden ist. Der Klimawandel lässt sich hier gut erkennen und er hat in Bezug auf die Hütte – für einmal – positive wirtschaftliche Auswirkungen. Reto relativiert jedoch umgehend: «Weil die Chamanna Cluozza in einem Gebiet steht, in welchem Murgänge drohen, die vor allem bei Starkniederschlägen auftreten, mussten wir 2006 oberhalb der Hütte einen Damm aufschütten. «Das hat viel Zeit und Geld gekostet.». Reto Strimer ist ein «lebendes Archiv». Als gelernter Bauzeichner und Bauführer dokumentiert er alles, was sich im Nationalpark tut. Und er ergänzt das Anforderungsprofil für einen Parkwächter mit dem Satz: «Handwerklich geschickt sollte mein Nachfolger oder meine Nachfolgerin auch sein.» Das sei wichtig, denn der Unterhalt der Infrastrukturen sei eine wichtige Aufgabe. Und dafür brauche es eine entsprechende Ausbildung.
Eine wichtige Eigenschaft, welche ein Parkwächter haben muss, erwähnt Reto Strimer nicht, weil sie so selbstverständlich ist. Sie wird dem Direktor am nächsten Morgen klar, als Reto den steilen Aufstieg Richtung Murtersattel in Angriff nimmt. Der bald 65-Jährige wählt einen kurzen, zügigen Schritt und beweist damit auch nahe des Pensionsalters, dass er konditionell auf der Höhe und fürs Gebirge geeignet ist. Nach der kürzlichen Operation machen die Knie auch beim Abstieg wieder voll mit. Dieser Abstieg vom Sattel erfolgt auf einer Route abseits des Wanderwegs, welche aufgrund des Weggebots im SNP für die allermeisten nicht begehbar ist. Dessen ist sich Reto Strimer auch nach 32 Jahren noch sehr bewusst. «Es ist ein riesiges Privileg, dies ab und zu und für Beobachtungszwecke und Monitoringaufgaben tun zu dürfen», meint er bereits nach wenigen Metern abseits des Weges. Er geniesst seine wohl letzte «offizielle» Tour weit über der Val Cluozza, die bald in die Winterruhe geht, sichtlich. Bereits im Aufstieg haben wir Gämsen und Steinböcke ganz in der Nähe gesehen. Nun erkennt der erfahrene Beobachter im Schnee Spuren von Füchsen, Schneehasen und Schneehühnern. Reto geniesst den Rundblick vom Piz dal Diavel über die Val Sassa zum Piz Quattervals. Natürlich kennt er alle Gipfel, Täler und Fluren der Gegend, und wir sinnieren darüber, wie der Teufel zu seinen Gärten, den Üerts dal Diavel, die weit unter uns liegen, kam. Im Abstieg steuert Reto Strimer zielsicher auf einen breit ausgetretenen Wildwechsel zu, der uns einen angenehmen Weg abwärts bietet. Durch die gelben Lärchenwälder steigen wir hinunter Richtung Wanderweg und Punt Periv, von wo aus wir das Ende der Abschiedstour von Reto in La Drossa nach einer weiteren halben Stunde erreichen. Mit den Worten: «Ich hatte ein schönes Büro die letzten 32 Jahre», schliesst Reto die Tour ab und freut sich auf die letzten vier Monate als Parkwächter im Dienst des Schweizerischen Nationalparks.
Autor: Ruedi Haller/SNP
Dieser Artikel ist erstmals im Unterengadiner Gästemagazin «Allegra» erschienen.
Diskutieren Sie mit
Login, um Kommentar zu schreiben